"Drei Klicks und alle sehen zu"
29. Oktober 2019Wegen des Verdachts der Weiterleitung von Videodateien, die teils schwere sexuelle Gewalt gegen Kinder zeigen, wird nach einer Razzia in elf Bundesländern gegen 21 Verdächtige ermittelt. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind sie zwischen 14 und 26 Jahre alt. Die DW sprach über diese Entwicklung mit der Geschäftsführerin des Kinderschutzvereins "Dunkelziffer".
DW: Frau Gommeringer, es sind nicht nur Pädophile, die Fotos und Videos vom sexuellen Missbrauch an Kindern besitzen und weiterleiten. Wie der jüngste Ermittlungserfolg von Staatsanwaltschaft und Polizeibehörden zeigt, sind es häufig auch Minderjährige und junge Erwachsene, die Kinderpornographie verbreiten. Ist das ein überraschendes Phänomen für Sie?
Julia Gommeringer: Nein. Kinder- und Jugendliche sind aber nicht unbedingt an kinderpornographischem Material interessiert, sondern an etwas, das heftig und außergewöhnlich ist. Sie sind nicht pädophil in dem Sinne wie wir es von Erwachsenen kennen, sondern es geht darum, cool zu sein: 'krass Alter, guck mal was ich hier habe.' Solche Inhalte, wo auch immer sie hergekommen, werden weiter verschickt. Und dann hat der eine Junge was geschickt und ist cool und der andere schickt es weiter, weil er auch cool sein will. Oft denken sie darüber nicht weiter nach.
Die ermittelnden Behörden erklärten, dass die jungen Täter meist keinerlei Unrechtsbewusstsein hätten und das Weiterverbreiten als Bagatelle ansehen - das passt ins Bild, das sie gerade skizzieren. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass es kaum oder sogar keinerlei Schuldgefühle gibt?
Das ist auch ein 'nicht drüber Nachdenken'. Man glaubt, wenn der eine etwas geschickt hat, dann kann es doch nichts Verbotenes sein. Ich denke, es spielt auch eine allgemeine Verrohung eine Rolle. Der Zugang zu Pornographie und zu Gewaltbildern ist heute einfach ein ganz anderer als er vor ein paar Jahren noch war. Es wird alles ganz schnell immer weitergeschickt und mit allen geteilt. Ohne überhaupt darüber nachzudenken. Für die Jugendlichen besteht die eigene Handlung nur aus drei Klicks. Da haben sie das Gefühl, das kann doch nicht schlimm sein.
Es ist ein Phänomen der sozialen Netzwerke und ihrer sogenannten Echokammern, dass man sich in ihnen gegenseitig anstachelt. Welche Rolle aber spielt Ihrer Meinung nach mangelndes Mitgefühl oder mangelnde Medienkompetenz beim Teilen solche Inhalte?
Es spielt eine ganz große Rolle. Es wäre wirklich wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen sowohl in den Schulen als auch im Elternhaus mehr erfahren, was Recht und was Unrecht ist, was auch wirklich strafbar ist. Denn diese Videos sind strafbar und das ist den Kindern und Jugendlichen gar nicht klar.
Welche Konsequenzen sollten denn die Behörden aus dieser Entwicklung ziehen? Welche Signale könnten sie setzen, um den Jugendlichen bewusst zu machen, dass es sich nicht um Kavaliersdelikte handelt?
Ein erster Schritt ist sicherlich mit dieser Kampagne des Bundeskriminalamts BKA getan, um den Jugendlichen zu sagen, was ihr da macht, ist eine Straftat. Aber auch in der Schule gehört Medienkompetenz und Sozialkompetenz auf den Lehrplan.
Welche BKA-Kampagne meinen Sie genau?
Dass das BKA auch an die Presse gegangen ist. Es ist auch ein kleiner Film auf die Facebookseite des BKA gestellt worden, um den Jugendlichen zu verdeutlichen: Es kann auch mal die Polizei vor der Tür stehen und das Handy, das Laptop, das Tablet oder die Playstation einkassieren, weil es um eine Straftat geht. Aber: Es wäre einfach wichtig, dass Kinder und Jugendliche in der Schule Medienkompetenz erlernen. Was ist richtig, was ist falsch, was hat das für Konsequenzen für mich? Und was hat das für Konsequenzen für die Opfer? Denn darüber wird oft nicht nachgedacht. Das müssen die Jugendlichen erst lernen, damit sie merken, was sie anderen antun, in dem sie solche Inhalte verschicken.
Was macht das mit den Opfern, die den gefilmten Missbrauch oder - was auch vorkommt - den freiwilligen Sexualakt im Netz wiederfinden, verbreitet von Gleichaltrigen?
Wir erleben es immer wieder, dass es ganz schnell und unbewusst zu Situationen kommt, in dem sich ein Opfer teilweise sogar freiwillig filmen lässt, weil man sich der Konsequenz gar nicht bewusst ist. Und andere solche Aufnahmen verbreiten, weil sie sich nicht bewusst sind, dass dies verboten ist, sondern das cool finden. Für die Opfer heißt das natürlich, es sehen alle. Es ist dann nicht mehr wie früher, als jemand ein Foto herumzeigte, sondern das Geschehene ist mit drei Klicks in der ganzen Schule, in jedem Klassenchat zu sehen. Die Eltern kriegen es mit, jeder kriegt es mit. Solche Kinder möchten unserer Erfahrung nach häufig nicht mal mehr vor die Tür gehen.
Wie sollten die Eltern auf diese Entwicklung reagieren?
Eltern müssen darauf achten, dass sie mit ihren Kindern darüber sprechen, was ist Recht, was ist Unrecht. Was darf man verbreiten, was darf man nicht verbreiten. Sie müssen die Grenzen ziehen und vor allem an dem interessiert sein, was die Kinder machen. Es ist kein neues Phänomen, dass sich Jugendliche von ihren Eltern abgrenzen wollen, nicht alles erzählen. Nur die Eltern denken meistens, dass die Kinder ihr Handy genauso benutzen wie man das als Erwachsener tut. Aber dass die Kinder sich andere Dinge schicken und andere Dinge damit machen, ist total normal. Nur als Eltern muss man interessiert bleiben und die Grenzen ziehen.
Julia Gommeringer ist Geschäftsführerin von "Dunkelziffer". Der größtenteils spendenfinanzierte Verein kämpft seit 1993 mit Therapien, Beratung, Prävention und Fortbildung gegen sexuellen Missbrauch von Kindern sowie Kinderpornographie.
Das Gespräch führte Ralf Bosen.