Einblicke ins ukrainische Kino und Leben
12. Juni 2022Nach zwei Jahren, in denen pandemiebedingt nur Online-Veranstaltungen möglich waren, hatten sich Viktoria Leshchenko, Yuliia Kovalenko und ihr Organisationsteam eigentlich darauf gefreut, das Publikum zum Docudays UA International Human Rights Documentary Film Festival in der Ukraine endlich wieder persönlich begrüßen zu können. Das Filmfest rund um Menschenrechte sollte vom 25. März bis zum 3. April stattfinden.
Doch kurz vor Abschluss der Planungen überfiel Russland die Ukraine. Das Festival wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. "Das ist eine schmerzhafte Geschichte für uns", sagt die Kuratorin Kovalenko der DW in einem Videoanruf aus Odessa.
Flucht statt Filmfestival
Kovalenko blieb mit ihren Eltern im Land, während Leshchenko, die Programmdirektorin des Festivals, nach Berlin floh. Obwohl ihre Leben durch den Krieg auf den Kopf gestellt wurden, verfolgten beide ihre Mission weiter, das ukrainische Kino zu fördern. Kurzerhand gründeten sie das sloїk film atelier, einen ukrainischen Verbund von Filmkuratorinnen und -kuratoren.
In Zusammenarbeit mit den beiden Initiatorinnen präsentiert die Deutsche Kinemathek in Berlin nun ein spezielles Programm mit dem Titel "Perspectives of Ukrainian Cinema".
Vom 12. bis 30. Juni zeigen Kinos in Berlin, Hamburg und Leipzig bei freiem Eintritt eine vielseitige Auswahl ukrainischer Filme, begleitet von Diskussionen mit Filmschaffenden und Expertinnen und Experten.
"Wir wissen nicht so viel über die ukrainische Kultur, Gesellschaft und Geschichte, wie wir wissen sollten", betonte Rainer Rother, künstlerischer Leiter der Deutschen Kinemathek, bei der Vorstellung der Filmreihe. Mit der Vorführung dieser Werke wolle das deutsche Filmarchiv das Bewusstsein dafür schärfen, dass "die Ukraine eine eigene Kultur hat - die russische Propaganda leugnet ja bekanntlich die Existenz der ukrainischen Kultur".
Claudia Roth: "Krieg gegen die Kultur"
Ein Gedanke, den auch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, bei ihrem Besuch in Odessa am vergangenen Dienstag ansprach: "Dieser Krieg ist auch ein Krieg gegen die Kultur", sagte sie und wies darauf hin, dass nach mehr als 100 Tagen Krieg 375 kulturelle Einrichtungen und 137 Kirchen zerstört oder beschädigt wurden. "Das zeigt deutlich: Es geht um einen Angriff auf die kulturelle Identität der Ukraine."
Zur Pressevorstellung der Filmreihe schickte die Co-Kuratorin Yuliia Kovalenko eine Videobotschaft, die vor dem Filmstudio in Odessa aufgenommen wurde. Der Ort war nicht zufällig gewählt.
Das Filmstudio, das 2019 sein 100-jähriges Bestehen feierte, steht für die lange Filmtradition der Ukraine. Doch vor wenigen Wochen erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, Russland betrachte das Filmstudio als "militärische Einrichtung" und wahrscheinliches Ziel eines Raketenangriffs.
Die Tatsache, dass Russland mit der Zerstörung dieses kulturellen Symbols droht, weckt schmerzhafte Erinnerungen, denn die blühende ukrainische Filmszene war bereits im vergangenen Jahrhundert durch das totalitäre Regime der Sowjetunion unterdrückt worden.
Die Menschen in der Ukraine sind stolz auf ihre filmische Tradition. Wie Kovalenko betont, sehen die Einwohnerinnen und Einwohner von Odessa ihre Stadt als Ursprung der weltweit ersten Filmkamera: Der Erfinder Joseph Timchenko führte 1894 Filme vor, die er mit seinem eigenen Gerät gedreht hatte - zwei Jahre vor der ersten Projektion der Brüder Lumière, die als Geburtsstunde des Kinos in die Geschichte einging. Timchenko hatte seinen Entwurf nie patentieren lassen.
Odessa: einst "ukrainisches Hollywood"
Das staatlich geführte Filmstudio Odessa wurde offiziell 1919 gegründet, es entstand aus den Resten der privaten Filmstudios von Myron Grossman und anderen Produzenten. Zunächst wurde es von einer staatlichen Agentur namens Allukrainische Foto-Kino-Verwaltung geführt, "aber in den ersten zehn Jahren war es noch möglich, unabhängig von Moskau zu arbeiten", erklärt Kovalenko. Es war die goldene Ära des ukrainischen Kinos und Odessa habe als "das ukrainische Hollywood" gegolten.
Doch ab den 1930er Jahren geriet das Studio unter die Kontrolle Moskaus und viele Filmschaffende flohen, da sie mit politischer Verfolgung rechnen mussten. "Es war eine dunkle Zeit des Terrors gegen Intellektuelle und einfache Bürgerinnen und Bürger", erzählt Kovalenko und erinnert an das Schicksal bedeutender Filmemacherinnen und Filmemacher und Drehbuchautorinnen und -autoren.
Verfolgung und Tod unter Stalin
Zu ihnen gehörte Les Kurbas, der zu den wichtigsten ukrainischen Theaterregisseurinnen und -regisseuren des 20. Jahrhunderts zählt. Kurbas ist eines von schätzungsweise 700.000 bis 1,2 Millionen Opfern, die während Josef Stalins als "Große Säuberung" bekannter Verfolgungskampagne zwischen August 1936 bis März 1938 getötet wurden.
Ein weiterer bekannter Name ist Isaak Babel, Drehbuchautor und Schriftsteller, dessen Bücher in mehrere Sprachen übersetzt wurden, darunter seine "Odessa Stories". Als er in den frühen 1930er Jahren durch die Ukraine reiste, wurde er Zeuge der brutalen Kollektivierung in der UdSSR und der von Stalin bewusst herbeigeführten Hungersnot in den Jahren 1932 und 1933:.Dem sogenannten Holodomor fielen schätzungsweise vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zum Opfer.
Babel wurde 1939 verhaftet und starb nach Angaben der sowjetischen Behörden 1941 in einem sibirischen Gulag. Seine Familie vermutet, dass er bereits kurz nach seiner Verhaftung hingerichtet wurde.
Oleksandr Dowschenkos "Arsenal" von 1929 als Auftakt
Eröffnet wird "Perspectives of Ukrainian Cinema" mit einem Filmklassiker von Oleksandr Dowschenko, der damals weiterarbeiten konnte, da er die kommunistischen Ideale unterstützte. "Aber trotz seiner kommunistischen Überzeugungen hat er nicht versucht, Agitprop-Filme zu produzieren", so Kovalenko.
Dowschenkos avantgardistischer Film "Arsenal" aus dem Jahr 1929, der den Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter in der gleichnamigen Kiewer Fabrik von 1918 schildert, vermeidet eine klare ideologische Linie. Stattdessen beschwört er die Absurditäten der Kriegszeit herauf, was als Infragestellung der Moral einer gewaltsamen Revolution interpretiert werden kann: "Es ist wirklich interessant, den Film heute zu analysieren und neu zu überdenken", findet Kovalenko.
Alle anderen Filme der Reihe sind neuere Werke, die in den letzten fünf Jahren entstanden sind. Das ukrainische Kino erlebte in den vergangenen zehn Jahren einen Aufschwung, der durch eine starke Dokumentarfilmszene begünstigt wurde.
Diese neue Generation von Regisseurinnen und Regisseuren führt die Tradition des reichen filmischen Erbes des Landes weiter. Ihre Werke zeigten nicht nur eine breite Palette von Genres, so Leshchenko, sie zeugten auch davon, dass der Krieg nicht erst 2022 begann.
Insgesamt zeigt "Perspectives of Ukrainian Cinema" zwischen dem 12. und 30. Juni 2022 in Berlin (Delphi Lux, City Kino Wedding), Hamburg (Abaton Kino) und Leipzig (Schaubühne Lindenfels) sieben Lang- und zwei Kurzfilme.
Übersetzung aus dem Englischen: Torsten Landsberg