Kippa-Prozess: War der Angriff antisemitisch?
19. Juni 2018Es ist Mittag, als der Vorsitzende Richter des Berliner Jugendschöffengerichts die Hoffnung verliert, er könne den Fall schnell abschließen. "Eigentlich ist das doch ein recht übersichtlicher Sachverhalt", sagt er in die Runde der Prozessbeteiligten und Zuhörer im Saal des Amtsgerichts Tiergarten. Doch so bleibt es nicht. Erst beraumt er nur einen neuen Verhandlungstag an, später spekuliert er über einen weiteren nötigen Termin. Sieben Zeugen fehlen noch. Bis jetzt ist gerade mal der Angeklagte angehört worden.
Er ist ein schlanker junger Mann, 19 Jahre jung. Al S. stammt aus Syrien und ist vor drei Jahren als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Ihm wird vorgeworfen - und dazu hat er sich auch bekannt - vor zwei Monaten in einem beliebten Berliner Bezirk mit einem Gürtel auf einen 21-Jährigen eingeprügelt zu haben. Der Angeklagte war mit einem Cousin und einem Bekannten unterwegs. Der Angegriffene Adam A. hatte einen Freund bei sich. Beide trugen kleine bestickte Käppchen -eine Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung männlicher Juden. Als Al S. auf Adam S. einstürmt, schimpft und flucht er auf Arabisch. Dabei sagt er auch etwas, dass sich mit "du jüdischer Zuhälter" übersetzen lässt. Er schlägt zu. Schließlich wird der Täter von seinem Verwandten abgedrängt und geht.
Der Verprügelte hat das mit seinem Mobiltelefon gefilmt. Die Nachricht von der Gewalttat und das Video haben weit über Deutschland hinaus für Aufsehen gesorgt. Ist Deutschland kein guter Ort für Juden mehr? Besorgte Aufrufe und Solidaritätsaktionen folgten auf die Tat. Großes Interesse auch beim Prozess: Der große Saal 700 im Kriminalgericht ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt.
Ist die Beschimpfung "Jude" automatisch antisemitisch?
"Er ist sehr beeindruckt davon, wie sehr der Prozess aufgeladen ist", sagt die Verteidigerin Ria Halbritter über ihren Mandanten. Der Angeklagte hat einen wächsernen, fahlen Teint. Er ist anfangs kaum zu verstehen, als er seine Version des Tathergangs beschreibt, auf Deutsch. "Ich habe ihn geschlagen, das tut mir sehr leid", sagt Al S. stockend. Er sei vor der Tat bekifft gewesen und habe auch Ecstasy eingenommen. Der Richter überzeugt ihn, mit einer Übersetzerin zusammenzuarbeiten. Der Vortrag wird flüssiger. Aber er wird nicht unbedingt klarer.
Das liegt zum einen daran, weil der Angeklagte sich selbst - im Widerspruch zu Zeugen des Tathergangs - in eine Art Opferrolle bringt. Er erzählt, dass der von ihm Angegriffene und dessen Freund ihn und seine Gruppe zuerst beschimpft hätten. Dabei sei es auch um die Genitalien seiner Schwester gegangen. Er habe sich bei seiner Reaktion im Recht gefühlt. "Sie finden es normal, dass Sie einen verprügeln, der sie beleidigt?", will der Richter wissen. "Ja", antwortet Al S. Aber er würde das künftig nicht mehr machen, das habe er nun gelernt: "Warum soll ich für ein Schimpfwort ins Gefängnis gehen?"
Der Beschuldige findet, dass es nicht antisemitisch sei, jemanden als "Juden" runter zu machen. "Wir machen das die ganze Zeit untereinander, das ist nicht Ernst, das ist Spaß", sagt er. Die Kippa habe er erst gesehen, als er schon zweimal mit dem Gürtel zugeschlagen hatte: "Es ist nicht das erste Mal, dass ich so schimpfe!" Der Richter fragt wiederholt nach: "Wollen Sie uns das erklären?" Al S. versucht es. Die Beschimpfung als Jude sei üblich, macht er deutlich und habe nichts mit Antisemitismus zu tun. "Ich habe nichts gegen Juden oder Christen. Wenn das so wäre, dann wäre ich nicht nach Deutschland gekommen", führt er aus. Im Übrigen beschäftige er sich nicht mit Politik.
Unbehagliche Wortergründungen im Kippa-Prozess
Für Mike Samuel Delberg ist das nicht schlüssig. Der Repräsentant der jüdischen Gemeinde Berlins verfolgt den Prozess mit aufgesetzter Kippa im Gerichtssaal. "Das kann doch nicht sein, dass in bestimmten Kreisen "Jude" als alltägliches Schimpfwort gebraucht wird, das beleidigt mich", sagt er in einer Verhandlungspause. Er hoffe jetzt, dass das Gericht mit seinem Urteil ein Signal gegen Antisemitismus setze. Delberg verweist auf den Facebook-Account des Angeklagten. Der sei zwar inzwischen bereinigt, wecke aber Zweifel daran, dass Al S. so unpolitisch sei.
Diesen Eindruck bestärkt auch eine Zeugin der Vorfälle vom April. Janina L. berichtet davon, wie Al S. ihr gegenüber gesagt hatte, er sei ein Palästinenser - als ob das Gewalt gegen Juden rechtfertige. Das war, nachdem die Zeugin eingeschritten war und den Täter ermahnt hatte, so etwas - Gewalt und Beschimpfungen - gehe in Deutschland nicht. "Das ist mir scheißegal", habe Al S. geantwortet und sei mit seinem Begleiter "tiefenentspannt" weiter gegangen.
Ein verwackeltes Video und eine verletzte Psyche
Zurück blieb der Geschädigte mit seinem Smartphone in der Hand. Adam A. berichtet dem Gericht, wie es zu der Aufnahme gekommen sei. Adam A. lebt seit drei Monaten in Berlin und studiert Tiermedizin. Er spricht praktisch akzentfrei deutsch und fragt immer nach, wenn er das Gefühl hat, er habe etwas nicht genau verstanden. Der kultivierte 21-Jährige hat seine Geschichte der Deutschen Welle und in vielen weiteren Medienauftritten geschildert.
Er habe die brenzlige Situation auf der Straße erst gar nicht richtig mitbekommen, sagte er. Erst als die Beschimpfungen lauter geworden seien, habe er sich orientiert. Als der Angeklagte auf ihn zugekommen sei - mit dem Gürtel in der Hand - habe er begonnen zu filmen: "Ich wollte, dass er Angst bekommt, weil er aufgenommen wird und vielleicht aufhört."
Das Video wird im Gerichtssaal gezeigt. "Warum beschimpfst du uns", hört man Al S. rufen, man sieht, dass er den Gürtel schwingt wie eine Peitsche. Für die letzte Einstellung des Wackelvideos richtet Adam S. den Fokus auf seinen lädierten Rumpf. Adam A. wird getroffen - an der Lippe, an den Rippen links, am Bein. Das sieht man nicht. Bei der Polizei wird er noch über Rückenschmerzen klagen. Er lässt sich nicht von einem Arzt begutachten.
Die Prellungen sind abgeschwollen, aber das war nur ein Teil der Verletzungen. "Seelisch war schlimmer als körperlich", sagt Adam A.. Dass er und sein Freund Kippa getragen hätten, schildert er als eine Laune eines Augenblicks. Er ist kein Jude, aber er lebe in einem jüdischen Umfeld. "Die Käppchen lagen auf dem Tisch zu Hause und ich finde es toll, sie zu tragen", berichtet Adam A.. Jetzt aber setze er sie nicht mehr auf: "Ich fühle mich unsicher und würde die Kippa nicht mehr aufsetzen, wenn ich allein bin."