Kleine Region, große Probleme
19. August 2015Gemessen an der Zahl der Migranten ist die Autonome Region Kurdistan im Norden Iraks die attraktivste Provinz des gesamten irakischen Staates. Rund anderthalb Millionen Binnenflüchtlinge, überwiegend Sunniten, haben dort in den vergangenen Jahren Schutz und Sicherheit gesucht. Der Strom reißt nicht ab, im Gegenteil: Seitdem die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) vor einem Jahr die Stadt Mossul eroberte, hat sich der Zuzug in das Siedlungsgebiet der rund 5,3 Millionen Kurden noch einmal verstärkt.
Schätzungen zufolge halten sich derzeit dort gut zwei Millionen geflohene Iraker auf. Die Belastung ist erheblich: So leben in der rund 50 Kilometer südlich der Provinzhauptstadt Erbil gelegenen Stadt Schaqlawa derzeit rund 30.000 irakische Araber. Ursprünglich hatte Schaqlawa etwa 25.000 Bewohner.
"Die demographische Landkarte Kurdistans verändert sich unmerklich", erklärt Ahmed Anwar Tahir, Mitglied des Rates der Stadt Sulaimaniya, im Gespräch mit dem kurdischen Mediennetzwerk Rudaw. "Wir müssen das Thema sehr schnell zur Sprache bringen, denn viele Araber bemühen sich hier um einen permanenten Wohnsitz."
Debatte um politisches Selbstverständnis
Die Sorge um die kurdische Identität ist nur eine von vielen, denen sich die Region derzeit gegenübersieht. Der Zuzug der Flüchtlinge könnte Irakisch-Kurdistan ebenso verändern wie die Debatte um ihre politischen Grundzüge. Entscheidende Weichen werden in diesen Wochen gestellt, wenn die kurdische Regionalregierung über eine weitere Amtszeit des Präsidenten Massud Barsani abstimmt.
Nach zwei regulären, jeweils vier Jahre dauernden Regierungsperioden hatte das Parlament ihn 2013 für zwei weitere Jahre als Präsident bestätigt. Diese Zeit ist jetzt abgelaufen. Eigentlich sollte sie um noch einmal zwei Jahre verlängert werden. Die Abstimmung darüber ist aufgrund des Krieges gegen den IS allerdings auf unbestimmte Zeit verschoben worden.
Die Frage, ob Barsani außerplanmäßig weiter regieren darf, hat jedoch eine Debatte um die Verbindlichkeit juristischer Vorgaben ausgelöst. Denn eigentlich schließt das kurdische Parlamentsgesetz - eine Verfassung hat sich die Region bislang noch nicht gegeben - eine Ausweitung der Präsidentenschaft über eine zweite Amtszeit hinaus aus.
Anhänger Barsanis sind allerdings der Ansicht, dass der Präsident sein Amt automatisch fortsetze, wenn Wahlen aufgrund des fortgesetzten Kriegs nicht abgehalten werden könnten. "Auf Grundlage des Kontinuitätsprinzips kann der Präsident sein Amt mit allen seinen Befugnissen fortsetzen", meint etwa die Juristin Vala Farid, Mitglied in Barsanis Demokratischer Partei Kurdistans (PDK), gegenüber dem Nachrichtensender Al-Dschasira.
Politik könnte Recht außer Kraft setzen
Andere teilen diese Überzeugung nicht. "Die Politik entscheidet darüber, was rechtlich möglich ist", moniert etwa Dlawer Ala'Aldeen, Präsident des Think Tanks Middle East Research Institute (MERI). Jede andere Entwicklung halte er für bedenklich, so Ala'Aldeen, denn dann werde das Recht politisiert. Solange keine klaren rechtlichen Vorgaben vorhanden seien, lasse sich die Frage einer weiteren Verlängerung nicht eindeutig entscheiden.
Das Recht müsse die letzte Instanz sein, zitiert Al-Dschasira einen Abgeordneten der Kurdischen Islamischen Union. "Sollte diese Instanz missachtet werden oder sollten Gesetze wegen der Interessen einzelner Personen geändert werden, dann werden Machtverhältnisse den Wahlausgang entscheiden. Dann setzt sich derjenige durch, der die meiste Macht hat."
Die Frage, wie lange Barsani sein Präsidentenamt noch innehaben soll, ist auch darum so bedeutend, weil sie sich indirekt auch auf den Kampf der Kurden gegen den IS auswirkt. Denn die auch von Deutschland ausgerüsteten und unterstützten Peschmerga-Kämpfer sind politisch keineswegs geeint. Sie gehören verschiedenen Parteien an - eben jenen, die nun über eine weitere Amtszeit Barsanis verhandeln. Groß ist die Sorge, die politische Auseinandersetzung könne sich auch die militärische beeinflussen.
Schwieriges Verhältnis zur PKK
Der Streit kommt auch deshalb ungelegen, weil Barsani gerade versucht, die Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) dazu zu bewegen, sich aus der Region zurückzuziehen. Die eigentlich aus der Türkei stammenden PKK-Kämpfer hatten erheblich zu den militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS beigetragen. Seit mehreren Wochen bekämpft die Türkei nicht nur den IS, sondern auch die PKK. Ihre Angriffe hat sie auch auf das Staatsgebiet des Irak ausgedehnt.
Dadurch, fürchtet Barsani, könnten auch die irakischen Kurden in diesen Konflikt hineingezogen werden. Denn die hegen für die PKK-Kämpfer teils erhebliche Sympathien. Schlössen sie sich nun dem Kampf der PKK an, könnte die Türkei auch gegen die irakischen Kurden vorgehen. Dann befände sich die Region Irakisch-Kurdistan in einem Zwei-Fronten-Krieg. Den kann sie sich nicht leisten. Auch in dieser Hinsicht steht Barsani unter Druck.