Ouvertüre des Mauerfalls
8. November 201429. Oktober 1989. Ein Sonntag. Walter Momper, Regierender Bürgermeister West-Berlins, ist im Ostteil der Stadt. Nicht ganz inkognito, aber auch nicht offiziell: Manfred Stolpe, führender Kopf der evangelischen Kirche der DDR, hat ihn zum Mittagessen eingeladen. Inklusive Überraschungsgästen. Stolpe (SPD), nach der Vereinigung Ministerpräsident in Brandenburg, ist nur Vermittler. Er hat zwei hochkarätige DDR-Vertreter im Schlepptau: Günter Schabowski, Ost-Berliner SED-Chef. Und Erhard Krack, Bürgermeister der DDR-Hauptstadt.
Tatort des konspirativen Ost-West-Austausches: der Rosensalon im Palast-Hotel. Es geht den beiden Ostdeutschen unter anderem um das neue DDR-Reisegesetz. Darüber hatte das "Neue Deutschland" schon vier Tage zuvor für alle lesbar berichtet. Details sollten später bekannt gemacht werden. Das Inkrafttreten war noch vor Weihnachten geplant. Eine Sensation. Auch für Momper.
Grundlagenarbeit im Ost-Berliner Rosensalon
Der ist geradezu elektrisiert, berichtet der Zeithistoriker Hans-Hermann Hertle im Interview mit der DW. Momper ruft schon am Tag danach eine Arbeitsgruppe zusammen, die Leitung hat der West-Berliner Wirtschaftssenator. Was er von Schabowski zu hören bekommt, übersteigt seine Erwartungen. Binnen weniger Wochen sollen Hunderttausende Ostdeutsche West-Berlin einen Besuch abstatten. Die DDR beabsichtigt, Reisepässe auszugeben, um die Fluchtbewegung zu stoppen. Momper weiß: Dafür ist seine Stadt nicht vorbereitet.
Es müssen neue Grenzübergänge errichtet werden. Zur Überraschung Mompers sieht das auch Schabowski so. Offen ist auch die Frage nach Unterkünften für die Ostdeutschen. Niemand weiß, wie viele nur zu Besuch kommen, wie viele bleiben werden. Auch andere Fragen liegen an: Kommen sie mit ihren Trabis und Wartburgs? Und: Sie brauchen Stadtpläne von West-Berlin!
Die Zeit drängt. Schabowski nennt Momper ein Datum. Frühestens ab 1. Dezember müssten die West-Berliner mit größeren "Besucherströmen" aus dem Osten rechnen. Entsprechend rasch terminiert die Arbeitsgruppe in ihrer ersten Sitzung am 1. November die Folgetreffen für den 8. und 15.11., nicht ahnend, dass die Dynamik der Ereignisse für Ost-Berlin wenig später nicht mehr steuerbar sein wird.
Die Alliierten sind stocksauer
3. November. Das "Rosensalon-Treffen" bleibt nicht lange geheim. Die Westalliierten sind verschnupft. Hinter ihrem Rücken Gespräche mit Ost-Berlin - ein Affront. Harry Gilmore, der amerikanische Gesandte, fordert Momper auf, den drei Westalliierten Bericht zu erstatten. Am 3. November nennt er Details. Dass Momper überhaupt ohne Wissen und Genehmigung der Amerikaner, Briten und Franzosen Kontakt mit Ost-Berlin hat, ist Egon Bahr, Willy Brandts wichtigstem außen- und deutschlandpolitischen Berater während seiner Kanzlerschaft, noch heute ein Rätsel. Gegenüber der DW hegt er große Zweifel an Art und Verlauf der Momper-Schabowski-Gespräche. Unfassbar ist für ihn vor allem die Nichteinbindung der Alliierten.
Und auch Horst Teltschik, Helmut Kohls wichtigster Berater im Kanzleramt, will von den Momper-Schabowski-Gesprächen nie gehört haben. "Ich kann mich nicht erinnern, dass es konkrete Entscheidungen oder Überlegungen zur Grenzöffnung vor dem Fall der Mauer gegeben hätte", sagt er auf Anfrage der DW. Das legt nahe: West-Berlin war zu dem Zeitpunkt auf sich allein gestellt.
Ein Brief, der es in sich hat
Am 6. November schreibt Walter Momper einen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl. Denn ohne den Bund kann West-Berlin, das finanziell am Tropf von Bonn hängt, die Herausforderung nicht stemmen. Momper schlägt unter anderem vor, die Bundesregierung möge der Staatsbank der DDR das Begrüßungsgeld überweisen, das dann den Ausreisewilligen schon in der DDR ausgehändigt wird. Undenkbar für Kohl, der niemals der DDR-Führung über einen solchen Schritt eine Legitimation verschafft hätte, so der Historiker Hans-Hermann Hertle. Klar ist: Momper will einen Termin mit Kohl. Doch der Brief wird nicht beantwortet, bestätigt Momper Jahre später gegenüber Hertle. Und: Das dreiseitige Dokument wird von der Stasi abgefangen. Während der Staat DDR schon implodierte, funktionierte das Spitzelsystem noch perfekt.
Viel Hektik und kein Überblick: der 9. November
Berlin rüstet sich im November für den Ansturm und weiß sich auch ohne Bonner Unterstützung auf der sicheren Seite. Denn zu den Absprachen vom 29.10. gehört auch die Zusicherung Schabowskis, zwei Wochen vor der beabsichtigten Grenzöffnung Vorwarnung zu geben. Kerngedanke der neuen DDR-Reiseregelung ist das Ausgeben von Reisepässen auf Antrag. Inklusive einer Bearbeitungszeit von etwa sechs Wochen - ein Plan mit eingebauter Kontrolle. Und das gestreckt über Wochen. Es kommt anders. Niemand ruft an.
Die Bürokratie, eigentlich ein Kompetenzfeld der SED-Diktatur, wird zum Irrgarten der Handelnden. Schabowski, durch Dauersitzungen und Schlafmangel müde und geschwächt, verliert am 9. November in der entscheidenden Pressekonferenz den Überblick. Für die Reiseverordnung gibt es eine Sperrfrist. Doch die kennt Schabowski nicht. So soll morgens um 4 Uhr die Reiseregelung per Radio verbreitet werden. Damit wären auch die Grenzbeamten informiert und vorbereitet gewesen. Eine geordnete Ausreise wäre möglich gewesen. Doch um kurz vor 19 Uhr ist der entscheidende Satz gesprochen. "…nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich."
Jahre später verrät Günter Schabowski, was ihm noch so alles in dieser historischen Pressekonferenz durch den Kopf gegangen ist. Die Sowjets. Ihm fiel auf die Nachfrage eines Journalisten, ob die Regelung denn auch für West-Berlin gelte, "siedend heiß ein, dass wir das nicht mit den Sowjets besprochen hatten." Doch die meldeten sich am Tag danach. Kohl und Brandt, Teltschik, Bahr und Momper - sie alle kamen am 10. November zur großen Kundgebung vor das Schöneberger Rathaus. Teltschik berichtete Bahr, Kohl habe ein Telegramm von Gorbatschow bekommen. Man müsse jetzt sehr vorsichtig sein, die Sache sei labil und gefährlich, habe Gorbatschow geschrieben. "Wissen wir schon", habe Bahr entgegnet. "Brandt hat das gleiche Telegramm bekommen."