Wie Merkels potenzielle Nachfolger abstimmen
21. Juli 2021Im September 2021 wählt Deutschland einen neuen Bundestag, und damit wechselt auch das Kanzleramt. Drei große Parteien haben Kandidierende aufgestellt, die auf die Nachfolge von Angela Merkel hoffen.
Merkels eigene Partei, die Christdemokraten (CDU), nominierte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet für die Kandidatur. Die Grünen machten die 40-jährige Völkerrechtlerin Annnalena Baerbock zu ihrer Kandidatin. Die Sozialdemokraten (SPD) kürten den derzeitigen Finanzminister Olaf Scholz zu ihrem Spitzenkandidaten.
Was Abstimmungen verraten
Welche unterschiedlichen Schwerpunkte setzten Laschet, Baerbock und Scholz bisher? Um die Kernthemen der Kandidierenden zu identifizieren, hat die DW untersucht, welche Wörter und Phrasen sie in ihren Parlamentsreden häufiger verwenden als ihre Konkurrenten.
Neben den Kernthemen aus Parlamentsreden geben Abstimmungen in Bundes- und Landesparlamenten einen Überblick darüber, wie die Regierungsparteien ihre Versprechen umsetzen, wie sich die Oppositionsparteien positionieren und welche neuen Gesetze in eine politische Mehrheit finden. In Deutschland bilden in der Regel mehrere Parteien eine Mehrheitskoalition, die gemeinsam abstimmt und deren Anträge somit in der Regel angenommen werden – einen Zwang, im Einklang mit der eigenen Fraktion abzustimmen, gibt es jedoch nicht.
Die DW hat alle namentlichen Abstimmungen, an denen die Kandidierenden und Merkel selbst teilgenommen haben, von der Online-Plattform Abgeordnetenwatch heruntergeladen und sie manuell nach internationaler Relevanz und Thema klassifiziert. Was ist die Bilanz der Kanzleramts-Anwärter beim Thema Migration, Umweltpolitik oder europäischer Zusammenarbeit? Und was verrät uns das über Deutschlands zukünftigen Kanzler?
Merkels gemischte Migrationsbilanz
Merkels Entscheidung, 2015 die Grenzen für in Ungarn gestrandete Flüchtlinge offen zu halten, ging um die Welt. Insgesamt ist das Abstimmungsverhalten der Kanzlerin zur Migrations- und Flüchtlingspolitik jedoch eher gemischt. Weniger als ein Viertel ihrer Stimmen unterstützen eine offenere Migrationspolitik. Stattdessen stimmte ihre Regierungskoalition beispielsweise gegen einen Abschiebestopp für syrische Flüchtlinge, den die Grünen 2011 gefordert hatten, oder brachte den Antrag ein, Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien 2019 als sichere Herkunftsländer einzustufen.
Politisches Kalkül spielt bei solchen Abstimmungen eine große Rolle, sagt Ulrich Sieberer, Professor für empirische Politikwissenschaft an der Universität Bamberg: "Da geht es zu 99 Prozent darum, sich im Konflikt zwischen Regierung und Opposition zu positionieren."
Oppositionsparteien wie die Grünen können zwar Anträge ins Parlament einbringen, diese haben aber ohne Unterstützung der Regierungskoalition keine Aussicht auf Erfolg. Dennoch erfüllen sie einen Zweck, sagt Sieberer: "Aus Sicht der Opposition ist das ein Instrument, um die eigene Position gegenüber Wählern darzulegen und die Regierung vorzuführen, indem man sie gelegentlich zwingt, etwas Populäres abzulehnen."
Die SPD kennt diese Dynamik gut: Sie sieht sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, als Koalitionspartner der CDU gegen ihr eigenes Wahlprogramm zu stimmen. "Am Ende des Tages stehen die Parteien gemeinsam für die Regierungslinie ein und müssen sich natürlich auch ein bisschen an ihr messen lassen", sagt Sieberer. "Aber gleichzeitig beginnt natürlich sofort der Kampf um die Deutungshoheit." Parteien behaupten etwa, sie hätten ein anderes Ergebnis gewollt, seien aber zu Zugeständnissen an den Koalitionspartner gezwungen worden.
Das könnte auch den Grünen nach der Wahl so gehen. Sollten sie Teil einer Regierungskoalition werden, müssten sie anders abstimmen. "Dann kommen nur noch Anträge, von denen man weiß, dass sie die Unterstützung der Regierungspartner haben", sagt Sieberer.
Grüne unterstützen Anträge für offene Einwanderungspolitik
Als Oppositionspartei haben die Grünen oft Anträge eingebracht, die den Regierungsparteien zu extrem erschienen. Darunter auch mehrere Forderungen, mehr Geflüchtete und Asylsuchende in Deutschland aufzunehmen, wie etwa ein Antrag vom März 2020, rund 5.000 Menschen aus überfüllten griechischen Lagern aufzunehmen.
Baerbock und ihre Partei stimmen in fast allen Fällen für eine offenere Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik.
Wenig Daten zu Scholz und Laschet
Relativ dünn sind dagegen die Abstimmungsdaten von SPD-Kandidat Scholz und CDU-Vorsitz Laschet zum Thema. Öffentlich sprach sich Scholz dafür aus, mehr Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, nachdem Brände das griechische Lager im September 2020 zerstört hatten. Als in den Jahren 2015 und 2016 eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam, plädierte er für mehr europäische Zusammenarbeit und eine schnellere Bearbeitung von Asylanträgen, aber auch für schärfere Kontrollen an den EU-Grenzen und strengere Abschiebeverfahren.
Für Laschet sind nur zwei namentliche Abstimmungen zum Thema Migration verzeichnet, beide zu Anträgen der Opposition im Landtag. Generell gilt der CDU-Politiker und frühere nordrhein-westfälische Integrationsminister als Verfechter einer multikulturellen Gesellschaft und stellte sich 2015 hinter Merkels offenere Flüchtlingspolitik, gegen deren Kritiker. Als Merkel später ihre Politik verschärfte, wurde auch seine Haltung strikter.
Gemischte Unterstützung für Bundeswehr-Einsätze
Deutsche Soldaten sind derzeit in insgesamt 11 Einsätzen im Ausland beteiligt. Diese werden in der Regel von der Regierung beschlossen, müssen aber meist vom Bundestag genehmigt werden.
Als Oppositionspartei unterstützen die Grünen nur einen Teil dieser Einsätze. So stimmte Baerbock stets mit ihrer Partei etwa gegen eine deutsche Beteiligung an der NATO-Operation Sea Guardian, die für Sicherheit im Mittelmeer sorgen soll, und gegen die Einsätze der Bundeswehr im Irak und Syrien. Andere Einsätze, wie die in Nordafrika und im Libanon, unterstützen die Grünen dagegen.
Grüne am aktivsten in der Klimapolitik
Umweltpolitik ist ein Schlüsselthema der Grünen. In Baerbocks Zeit im Bundestag hat die Partei immer wieder selbst Anträge zum Thema eingebracht, etwa ein grundsätzliches Fracking-Verbot oder den Kohleausstieg bis 2022.
Viele dieser Anträge haben wenig Aussicht auf Erfolg und dienen vor allem dazu, sich politisch zu positionieren, erklärt Sieberer. Doch die Grünen unterstützen in der Regel auch Regierungsanträge, die Klimaschutz und Naturschutz stärken – ausgenommen einige Proteststimmen zu Anträgen, die sie für unzureichend halten.
Regierungsparteien wie die CDU lehnen Oppositionsanträge aus Prinzip ab. Das verschlechtert auch Merkels Abstimmungs-Bilanz zur Klimapolitik. Dennoch unterstützte Merkel mit ihrer Regierungskoalition mehr als die Hälfte der Anträge für mehr Klima- und Naturschutz. Ihre Regierung hat in den letzten Jahren einige umweltpolitische Entscheidungen mit auf den Weg gebracht und umgesetzt, etwa das Klimaschutzprogramm 2030 oder die Erhöhung der Luftverkehrsteuer. Aber sie und ihre Partei stimmten zum Beispiel auch für dieKürzungen von Solarförderungen.
Laschets Klima-Zögerlichkeit
Weniger Daten gibt es auch hier zu Laschet und Scholz, die im Landtag eher zu regionalen Themen abstimmen.
In seinen wenigen namentlichen Abstimmungen zu Umweltthemen hat Laschet gegen Anträge zum Tier- und Umweltschutz gestimmt. In der Öffentlichkeit zögert Laschet oft, umfassenden Klimaschutz zu unterstützen. In seinem Heimatbundesland spielt Kohlekraft noch immer eine große Rolle. Das mag ein Grund dafür sein, dass der CDU-Kandidat stets zuerst die Bedeutung von Industrie und Wirtschaft betont, wenn es um Klimaschutz geht.
Grüne und Regierungskoalition für mehr EU-Kooperation
Anträge zu europäischer Zusammenarbeit werden in der Regel von der Regierungskoalition eingebracht und daher meist angenommen. Hier bringen die Grünen weniger eigene Anträge ein, unterstützen jedoch die CDU/CSU und ihre Koalitionspartner bei Anträgen von Finanzhilfen für Griechenland über die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Albanien 2019 bis hin zur Beteiligung am Corona-Hilfspaket der EU 2020.
Als Oppositionspartei haben die Grünen in den vergangenen Jahren erstaunlich oft der Regierung zugestimmt, bemerkt Sieberer: "Da kann man ein bisschen sehen, dass sie sich auf eine mögliche künftige Regierungsbeteiligung vorbereiten. Man kann nicht Fundamentalopposition betreiben, wenn man später mit den gleichen Leuten zusammen regieren möchte."