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Klitschko: Wir gehen in die Offensive

Roman Goncharenko, zurzeit Kiew23. Januar 2014

Schwarzer Rauch steigt in den Himmel, Explosionen und Schüsse sind zu hören. Menschen bauen Barrikaden. So sieht die Kiewer Innenstadt aus. Eine Entspannung ist nicht in Sicht. Das Wort "Krieg" fällt immer öfter.

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Oppositionsführer Vitali Klitschko spricht auf dem dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, in der ukrainischen Hauptstadt Kiew (Foto: REUTERS/Stringer)
Bild: Reuters

Er sprach wie jemand, der gerne mehr sagen würde, aber nicht kann oder nicht darf. Als sich Vitali Klitschko am Mittwochabend (22.01.2014) an zehntausende Demonstranten auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, in Kiew wandte, wählte er seine Worte besonders vorsichtig. Zunächst berichtete der Oppositionspolitiker über Verhandlungen mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die er zusammen mit zwei anderen Oppositionsführern am Nachmittag geführt hatte.

Neuwahlen - wie es die Opposition seit Wochen fordert - werde es nicht geben. Ein Rücktritt der Regierung sei zwar möglich, aber darüber müsse das Parlament entscheiden, erläuterte Klitschko den Standpunkt des Präsidenten. Ohne es offen auszusprechen, deutete Klitschko an, dass er gerne die Proteste anführen würde. Es gehe jetzt aber nicht um politische Führer, sagte der Oppositionelle. Er habe Verständnis dafür, dass manch einer enttäuscht sei. Seit Tagen fordern die Demonstranten, dass sich die drei Oppositionsführer auf einen einigen, der die Verantwortung übernimmt. Viele möchten, dass Klitschko als beliebtester Oppositionspolitiker dies tut.

Neue Protestwelle am Donnerstag

Mittwoch war der bislang blutigste Tag, seit die Proteste am Sonntag (19.01.2014) in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei umgeschlagen sind. Laut Angaben der Opposition sollen sieben Regierungsgegner getötet worden sein. Es gibt Berichte über hunderte Verletzte und Dutzende festgenommene Demonstranten. Die Regierung bezeichnet radikale Oppositionelle als Extremisten und droht mit weiterer Gewalt.

Demonstranten in Kiew schlagen mit Stöcken rhythmisch auf Barrikaden (Foto: REUTERS/Vasily Fedosenko)
Demonstranten schlagen mit Stöcken rhythmisch auf BarrikadenBild: Reuters

Oppositionelle Abgeordnete verkündeten unterdessen die Gründung eines Alternativparlaments, das einen Machtwechsel vorbereiten soll. Die wichtigste Aufgabe sei momentan jedoch, den Unabhängigkeitsplatz vor einem möglichen Sturm durch die Polizei zu verteidigen, sagte Klitschko und kündigte an: "Wenn der Präsident keine Zugeständnisse macht, werden wir in die Offensive gehen." Die Opposition hat dem Präsidenten erneut ein Ultimatum gesetzt.

Hass auf den Präsidenten

Es mag an den ersten Opfern liegen, aber am Mittwochabend kamen deutlich mehr Menschen in die Innenstadt als am Vortag. Es sind vor allem junge Männer, bewaffnet mit Holzstöcken oder Eisenstangen, die das Straßenbild auf dem Kiewer Prachtboulevard Chreschtschatik prägen. Viele tragen Bau- und Skihelme und Schutzbrillen. Sie bauen Barrikaden aus Säcken mit Schnee, lösen Pflastersteine aus der vereisten Straße, um damit auf Polizisten zu werfen. Sie wirken ruhig und doch ist die Stimmung sehr aggressiv. Der Hass auf den Präsidenten und seine regierende Partei der Regionen wird in Gesprächen mit Aktivisten sehr deutlich.

In den angrenzenden Straßen werden Metallzäune demontiert, ganze Betonblöcke bewegt. Schnell entstehen so neue Barrikaden. Immer wieder trifft man junge Studentinnen, die heißen Tee und Brötchen verteilen. "Wir wollen nicht in einer Diktatur leben", sagt eine von ihnen und läuft schnell weiter, um ihre Thermoskanne erneut mit heißem Tee zu füllen.

Demonstranten ziehen einen Betonblock über eine Straße in Kiew (Foto: REUTERS/Vasily) Fedosenko
Demonstranten errichten neue BarrikadenBild: Reuters

Symbolischer Ort

Nur wenige hundert Meter weiter, auf der Hruschewski-Straße, finden die blutigsten Kämpfe statt. Manche sehen darin ein Symbol. Michajlo Hruschewski gilt als Vordenker der ukrainischen Unabhängigkeit. Der Historiker war erster Präsident der Ukrainischen Volksrepublik, die 1918 nach dem Zerfall des Russischen Reiches entstanden war. Sie existierte nur einige Monate, bis Bolschewiki unter Lenin einen Großteil der Ukraine besetzten.

Heute kämpfen auf der Hruschewski-Straße junge Ukrainer. Viele sind erst Anfang 20 und in der unabhängigen Ukraine geboren. Sie wollen, dass ihr Land Mitglied der Europäischen Union wird, statt in ein Bündnis mit Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken einzutreten. Auslöser für die Proteste war die Entscheidung des Präsidenten, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen.

Ein Mann vor brennenden Barrikaden in Kiew (Foto: REUTERS/Vasily Fedosenko)
Brennende Barrikaden in KiewBild: Reuters

"Teilweise unkontrollierte Zustände"

Die Polizei und die Demonstranten trennt eine Feuerwand. Auf den Barrikaden brennen Autoreifen. Der Wind treibt den Rauch in Richtung Polizei und erschwert es den staatlichen Einsatzkräften, die Demonstranten anzugreifen. Polizisten werfen Blendgranaten und schießen mit Gummigeschossen, Demonstranten schleudern Molotowcoctails. Ununterbrochen schlagen Aktivisten mit Stöcken auf den Boden oder Blechtonnen: Bum-Bum-Bum schallt es durch die Nacht. Es erinnert an ein Kriegsritual.

Das Wort "Krieg" macht immer öfter die Runde. Ein Bürgerkrieg sei es noch nicht, doch es herrschen "teilweise unkontrollierte Zustände", sagt der ehemalige Verteidigungsminister Anatoli Hryzenko in einem Gespräch mit der Deutschen Welle. Der Oppositionspolitiker macht Präsident Janukowitsch für die Eskalation der Gewalt verantwortlich: "Er will den Demonstranten nicht zuhören". Hryzenko warnt vor einer weiteren Zunahme der Gewalt.

Opposition will Polizei auf ihre Seite ziehen

Oppositionspolitiker versuchen nun, die Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Sowohl Klitschko als auch der ehemalige Innenminister Juri Luzenko appellierten in ihren Reden auf dem Unabhängigkeitsplatz an Polizei und Armee, die Seite zu wechseln und keine Waffen mehr gegen die Demonstranten einzusetzen. Wenn die ersten Polizisten überlaufen, könnte es zur Wende zugunsten der Protestbewegung kommen, glauben einige Beobachter in Kiew. Doch die ist derzeit nicht in Sicht.

Ein Mann in Kiew stellt sich mit nacktem Oberkörper den Sicherheitskräften der Regierung entgegen (Foto: REUTERS/Stringer)
Die Opposition hofft, dass die Sicherheitskräfte die Seiten wechselnBild: Reuters