Koalitionspoker ohne Merkel
25. Mai 2021Armin Laschet will Nachfolger seiner christdemokratischen Parteifreundin Angela Merkel werden. Der Ministerpräsident des mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen steht für einen ähnlichen Politikstil: moderierend statt konfrontierend. "Großen Respekt vor der Lebensleistung" der seit 2005 regierenden Bundeskanzlerin habe er. Im TV-Sender ARD erinnert der 60-Jährige an vier "Weltkrisen", die Merkel gemeistert habe: "Die Flüchtlingskrise, die europäische Schuldenkrise, die Weltfinanzkrise und jetzt die Pandemie."
Noch im Februar wäre kaum jemand auf den Gedanken gekommen, dass die Christlich-Demokratische Union (CDU) nach 16 Jahren Merkel das Kanzleramt verlieren könnte. Im Deutschlandtrend kam sie gemeinsam mit ihrer bayrischen Schwesterpartei CSU auf 34 Prozent und lag weit vor den Grünen (21 Prozent). Drei Monate später hat sich das Blatt gewendet und die Umweltpartei führt mit drei Prozentpunkten Vorsprung auf die Unionsparteien - 26:23. Hauptgrund für diesen rasanten Umschwung dürfte der wochenlange Machtkampf um die Kanzlerkandidatur zwischen CDU-Chef Laschet und seinem CSU-Pendant Markus Söder gewesen sein.
Nun aber ist klar, dass Laschet ins Rennen um die Nachfolge Merkels geht. Um Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein, müsse man eine Grundüberzeugung haben, mit der man antrete, sagt der Kandidat. Die habe er und er werde versuchen, das Beste aus diesem Amt zu machen - wenn er denn gewählt werde... Um die Stimmung zu seinen Gunsten zu verändern, verbleiben ihm noch vier Monate bis zur Bundestagswahl am 26. September.
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock: "Was heißt Erfahrung?"
Laschets Herausforderin heißt Annalena Baerbock und auch sie betont, wie groß ihr Respekt vor einer möglichen Kanzlerschaft sei. "Natürlich ist es was ganz Besonderes, das größte Industrieland in Europa anzuführen, sagt die Spitzenkandidatin der Grünen im "Polittalk" des TV-Senders RBB. Dass sie im Gegensatz zum Kanzlerkandidaten der Union keine Regierungserfahrung hat, ist aus ihrer Sicht kein Nachteil: "Was heißt Erfahrung?", fragt sie und gibt selbst die Antwort: "Ich glaube, dass es gerade in diesen Zeiten extrem wichtig ist, Lebenserfahrung mit einzubringen." Zu wissen, was passiere, wenn man ein Jahr lang mit kleinen Kindern zu Hause sei.
Damit spielt Baerbock auf die Folgen der Corona-Pandemie an - und ihre familiäre Situation: Die 40-Jährige hat zwei Kinder. Und sie fügt selbstbewusst hinzu: "Zum Anderen heißt Politikerfahrung ja nicht nur Regierungserfahrung." Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin hält es im DW-Interview für möglich, dass die Kanzlerkandidatin der Grünen mit ihrem vermeintlichen Nachteil punkten kann. Denn sie verkörpere in den Augen mancher Wählerinnen und Wähler etwas "Neues" und damit "Aufbruch".
SPD-Außenseiter Olaf Scholz und sein Wille zu "Leadership"
Im Ausland hingegen werde Baerbocks fehlende Regierungserfahrung eher als Nachteil gesehen, vermutet Niedermayer. Besser einschätzbar sei jemand wie der SPD-Kanzlerkandidat und amtierende deutsche Finanzminister Olaf Scholz, "den man seit Jahren kennt in den internationalen Verhandlungen". Auf diesen vermeintlichen Vorteil setzt Scholz: "Denn es geht ja schon um etwas, wo Weltpolitik, wo europäische Politik, wo Politik für Deutschland zusammen gebracht werden muss." Und wer die Regierung führen wolle, dürfe keine Scheu vor "Leadership" haben.
Wobei die Chancen der SPD auf das Kanzleramt bei konstant niedrigen Umfragewerten um die 15 Prozent so gut wie aussichtslos sind. Sollte sie nach acht Jahren an der Seite Merkels weiter in der Regierung bleiben, dann wohl wieder nur als kleinere Koalitionspartnerin. Dann allerdings am ehesten in einer sogenannten Ampel-Koalition mit Grünen und Freien Demokraten in den Parteifarben Grün-Rot-Gelb. Durch den Höhenflug der Umweltpartei liegt zumindest rechnerisch sogar eine von den Grünen angeführte Bundesregierung mit Sozialdemokraten und Linkspartei im Bereich des Möglichen.
Linke träumen von Grün-Rot-Rot
Als fast unüberwindbares Hindernis gilt dabei die Außen- und Sicherheitspolitik. Was die Grünen in ihrer Sturm- und Drangzeit der 1980er Jahre wollten, nämlich die Auflösung des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses (NATO), streben die Linken noch immer an. Trotzdem sieht die im Februar zu einer von zwei Vorsitzenden gewählte Janine Wissler keine unüberbrückbaren Hürden für eine grün-rot-rote Koalition. Sie habe "mit Freude und Interesse" zur Kenntnis genommen, dass die Grünen mehrheitlich gegen die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr gestimmt hätten. Und bei der SPD gebe es "deutlichen Widerstand" gegen den Einsatz von bewaffneten Drohnen.
Wissler weiß aber auch, dass beide Parteien nicht prinzipiell gegen deutsche Soldaten im Ausland sind - anders als die Linke: "Wir wollen Bundeswehreinsätze beenden, das ist auch Teil unseres Grundsatzprogramms - und daran halten wir selbstverständlich fest." Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer traut den Grünen durchaus zu, sich mit der Linken einzulassen - wenn sie dann als stärkste Kraft die Kanzlerin stellen könnte. Die Differenzen bei den außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen seien zwar der "größte Stolperstein" - aber Niedermayer hegt keine Zweifel, dass Leute aus allen drei Parteien schon daran arbeiteten, "Kompromisslinien zu finden".
FDP-Chef Lindner "niemals motivierter als jetzt"
Auch Christian Lindner, Vorsitzender der Freien Demokraten (FDP), macht sich Gedanken über die Absichten der Grünen. "Würde sich Frau Baerbock auch von der Linken ins Kanzleramt wählen lassen?", fragt er Mitte Mai auf dem Parteitag der Liberalen. Zugleich proklamiert er unter dem Eindruck inzwischen wieder zweistelliger Umfragewerte die Bereitschaft seiner Partei, Teil der nächsten Bundesregierung sein zu wollen: "Ich war niemals motivierter als jetzt, die FDP zurückzuführen in die Gestaltungsverantwortung für dieses Land." So wie das zwischen 1949 und 2013 fast fünf Jahrzehnte der Fall war.
"Wir wollen, dass Deutschland moderner, digitaler und freier wird." Man vertraue den Menschen, betont Lindner, der 2017 die Chance auf eine Regierungsbeteiligung in einer sogenannten Jamaika-Koalition mit CDU/CSU und Grünen ungenutzt ließ. Nach der Bundestagswahl im September könnte sich die nächste Gelegenheit bieten, wenn es für Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz allein nicht reichen sollte. Beides wäre auf Bundesebene eine Premiere, ebenso wie eine Ampel-Koalition oder Grün-Rot-Rot.
Wechselstimmung ist stärker denn je
Im Moment spricht also fast alles dafür, dass Deutschland nach eineinhalb Jahrzehnten unter Angela Merkel in ein ganz neues parteipolitisches Zeitalter eintreten wird. Das entspräche auch der Wechselstimmung in der Bevölkerung, die in einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung ermittelt wurde. Demnach glauben rund 62 Prozent der Befragten, dass es gut wäre, wenn die Regierung wechselt. "Das sind die höchsten Werte seit Anfang der 1990er Jahre, seitdem diese Frage erstmals erhoben worden ist", sagt Studienleiter Robert Vehrkamp.