Koexistenz im Krisengebiet
29. Juli 2002Die indische Trans-Himalaya Region Ladakh bildet den östlichen Teil des Unionsstaates "Jammu und Kaschmir". Wegen ihrer Grenzen zu China und Pakistan zählt die Gegend zu den militärisch hochgerüstetsten Orten der Welt.
In Ladakh, das den größten Teil Kaschmirs ausmacht, leben nur 200.000 Menschen. Im Gegensatz zum Kaschmirtal haben in dieser unzugänglichen Gegend bis heute buddhistische Kultur und Klöster großen Einfluss auf die Gesellschaft. Viele Klöster besitzen Land und sind von daher wichtige Wirtschaftsfaktoren.
Kloster mitten im Leben
Sechs Kilometer vor Leh, der Hauptstadt Ladakhs, erhebt sich das Kloster Spituk majestätisch auf einem Felsenhügel. In einem uralten Ritual bringt ein Mönch der Göttin Tara ein Reisopfer dar. Der 65-jährige Nawang Lobzang ist einer von 40 Mönchen, die in Spituk leben.
Entgegen aller Erwartung macht seine Zelle keinen weltabgewandten Eindruck. Da gibt es neben antiken Buddha-Wandbildern und bemalten Möbeln einen Schwarz-Weiß-Fernseher. Die Nachrichten über den Kaschmirkonflikt, sagt Lobzang, verfolge er mit großem Interesse. "Die Wurzel des Krieges sehe ich im persönlichen und nationalen Egoismus", erklärt er ohne Zögern.
Extreme Lebensbedingungen ohne Extremismus
Der Extremismus hat in Ladakh bislang keinen Boden gewonnen. Jahrhundertelang lebten Muslime und Buddhisten in Harmonie, abgeschottet vom Rest der Welt. "Es gibt viele Abhängigkeiten in diesem rauen Klima. Eine muslimische Familie ist von einer buddhistischen abhängig und umgekehrt - während der Ernte, wegen eines Ochsens oder einer Wassermühle", sagt Elijah Gergan, Pfarrer der 100-Mitglieder-Christengemeinde in Leh.
Die Ladakhis unterscheiden sich ethnisch, sprachlich und kulturell von den Menschen im Kaschmirtal. Das betont auch Tsering Samphel, Präsident der "Vereinigung der Buddhisten Ladakhs" mit Sitz in Leh. Die Organisation ist das religiöse und politische Sprachrohr der Buddhisten. "1971 wurde Ladakh auf der Basis von Religionen in zwei Verwaltungsdistrikte geteilt. Das hat einen tiefen Graben geschaffen, denn davor lebten Buddhisten und Muslime wie Brüder", benennt er das Problem.
Der Konflikt lauert anderswo
In und um das Kloster Spituk ist vom Konflikt kaum etwas zu spüren, und doch sind es von hier nur 230 Kilometer bis nach Kargil, ins Kriegsgebiet an der provisorischen Grenze zu Pakistan. Von dort kehren die Soldaten nach Leh zurück, wo das vierte Kaschmir-Regiment stationiert ist. Die Armee wird in Ladakh - im Gegensatz zum Kaschmirtal - nicht in erster Linie als Besatzungsmacht erlebt, sondern als wichtiger Arbeitgeber.
Bilden die Buddhisten im Leh-Distrikt die Mehrheit, hat sich dieses Verhältnis im Kargil-Distrikt umgekehrt. Die Buddhisten fühlen sich vom muslimisch dominierten Farooq-Abdullah-Regime in Srinagar unterdrückt und benachteiligt. Dass im Kargil-Distrikt zwei Mönche von islamistischen Extremisten getötet wurden, schürt Ängste. Dort haben Muslime zudem den Bau eines Buddha-Tempels verhindert.
Flucht nach Ladakh
In Leh wirkt die Lage entspannt. Nur die Händler treffen die Auswirkungen des Grenz-Krieges hart. So wartet auch Abdhul Majeed vor seinem Laden vergeblich auf Touristen. Der heute 28-Jährige flüchtete vor 10 Jahren aus Srinagar, aus Angst, als Muslim pauschal als Terrorist abgestempelt zu werden. "Ich denke, wir sollten zusammenkommen und das Problem lösen. Krieg ist keine dauerhafte Lösung."
Majeed spricht aus, was viele denken. Er hat buddhistische Freunde und buddhistische Familienangehörige, ein Denken entlang religiöser Linien ist ihm fremd. Ob junge Muslime oder junge Buddhisten - sie wollen nur eins: Sicherheit, Jobs und bessere Zukunftsperspektiven. Sie haben die Politik der Zentralregierung und des von ihr hofierten, korrupten Regimes in Srinagar endgültig satt.