Wie ich die deutsche Bürokratie schätzen lernte
7. September 2017Ich muss etwas gestehen.
Ich stand der Korruption in Syrien immer sehr kritisch gegenüber. Aber jetzt, wo ich in Deutschland lebe, vermisse ich sie - und fühle mich schuldig.
In Syrien kriegt man ohne Bestechung und gewisse Beziehungen nicht viel erledigt. Selbst wenn man nur ein örtliches Event organisieren oder eine Mauer um seinen Garten hochziehen will.
Wir nannten es das "25-Pfund-System". 25 Syrische Pfund sind etwa neun Cent wert. Das ist der Standardpreis, den man zahlt, wenn man einen Strafzettel umgehen will. Wir nannten alle Arten von Bestechung so - auch jene, die nichts mit dem Straßenverkehr zu tun hatten.
Alles hat seinen Preis
Warum vermisse ich die Korruption? Weil Deutschland stattdessen die Bürokratie hat, und die ist ein echter Alptraum für Neuankömmlinge.
Dieses digital hochentwickelte Land funktioniert wie eine perfekt eingestellte Kuckucksuhr, mithilfe von Briefen, E-Mails, Unterschriften und Stempeln. Ich frage mich oft: Wofür der ganze Ärger, wenn das 25-Pfund-System alles viel schneller lösen würde?
In Syrien kannst du mit Geld fast alle Probleme lösen. Das System ist vergleichbar mit dem deutschen "Vitamin B" – nur, dass es natürlich anders angewandt wird. Bares und Beziehungen sind alles.
Alles hat seinen Preis, und die Bestechungsraten richten sich nach den Euro- und Dollarkursen. Momentan ist bei mir zu Hause alles sehr teuer. Außer Waffen, die sind gerade billiger als Kartoffeln.
Die Korruption in Syrien wird oft mit Sätzen wie: "So läuft das hier nun mal", oder "Jeder macht das so" gerechtfertigt. So wird das Unrecht in unseren Regierungsbüros nie ein Ende haben.
Alles an seinem Platz
Das deutsche System scheint vergleichsweise gerecht. Aber die Leute beschweren sich genauso darüber wie die Syrer über die heimische Korruption.
Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in einem deutschen Ausländeramt. Alles war sehr ordentlich und sauber. Die Arbeitsgeräte auf dem Schreibtisch, die Aktenordner in den Schränken und sogar die schöne grüne Pflanze am Fenster.
Die Beamtin begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. Unser Gespräch wurde zu meinem Erstaunen nicht von privaten Anrufen gestört, wie das in Syrien der Fall gewesen wäre.
Ich musste keinen Cousin oder Freund nennen, um die Beamtin zu überzeugen, meinen Fall vorzuziehen, und ich musste ihr keine 25 Pfund zahlen, um mir Respekt zu erkaufen oder sie davon abzuhalten, mit ihren Kollegen zu sprechen anstatt mir zu helfen.
Sie fragte auch nicht nach Dokumenten irgendeines Fantasie-Ministeriums, um meinen Antrag zu bearbeiten.
Endlose Entschuldigungen
In Syrien musste ich einen ganzen Monat lang jeden Tag in Regierungsbüros auftauchen, um meinen Personalausweis erneuert zu bekommen. Ich kann mich schon nicht mehr an all die Lügen erinnern, die mir die Beamten auftischten, während sie Tee tranken, rauchten oder ihr Frühstück zubereiteten.
An eine Entschuldigung erinnere ich mich jedoch. Ich hörte sie den ganzen Monat lang, wie ein Sprung auf einer Schallplatte: "Das System ist kaputt, verstehen Sie das nicht?"
Entschuldigung, Eure Hoheit, nein, ich verstehe nicht, was Sie meinen. In Wahrheit war ich dabei, dieses "kaputte System" zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, wo alles "funktioniert".
Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner
Doch schon nach einem Jahr Deutschland war mein Schreibtisch voller offizieller Dokumente, Briefe und Termine. Ich bekam Kopfschmerzen.
Ich sehnte mich nach dem scheinbar simplen 25-Pfund-System. Besonders als ich versuchte, Studienbeihilfe zu beantragen. Mein Termin mit der zuständigen Stelle wurde mehrere Monate verschoben, weil ich nicht alle angeforderten Dokumente eingereicht hatte.
Mir wurde klar, dass mein Frust reine Heuchelei war. Natürlich ist Bürokratie besser als Bestechung. Immer, wenn ich in einer Schlange vor einem deutschen Büro stehe, erinnere ich mich daran, dass es jedem anderen hier ganz genau so geht - vom deutschen Staatspräsidenten bis zu meinem Nachbarn.
Auch wenn man vom deutschen System Kopfschmerzen bekommt – es ist wenigstens fair.
Rim Dawa ist in Salamiyya, Syrien, geboren und aufgewachsen. Sie kam 2012 nach Deutschland, um ihren Masterabschluss in Internationalen Medienwissenschaften zu machen. Zurzeit ist sie als Journalistin für die arabische DW-Redaktion tätig.