Angela Merkel geht die Ochsentour. Mit vielen Trippelschritten versucht sie ihr Dogma der offenen Grenzen zu schützen. Tabuisiert ist auch die Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge. An beidem lässt sie nicht rütteln. Doch unterhalb dieser "reinen Lehren" spielt die Kanzlerin seit längerem schon mit allen zehn Fingern auf der Klaviatur der Korrekturpolitik. Es ist der Sound des "Sowohl-als-auch", der da erklingt. Auf dem einen beharren, ohne das andere zu lassen.
Wäre es nicht so ernst, man könnte von einem großen Schauspiel sprechen. Die protestantische Unbedingtheit Merkels, ihr unerschütterliches Festhalten am Prinzip der offenen Grenzen macht sie schon per se zum politischen Solitär in Europa. Niemand in der EU tut es ihr nach, keiner hilft. Und jetzt droht ihr sogar schon die einst treue Unionsfamilie mit Putsch.
Eine Botschaft mit Hintersinn
Dass Merkel die frisch eingetroffenen syrischen Kriegsflüchtlinge schon an die baldige Heimreise erinnert, hat dennoch nichts mit Kurskorrektur zu tun. Im Gegenteil: Merkel unternimmt viel, um das Tempo des Zustroms zu drosseln, die Verteilung in Europa gerechter zu organisieren und Wirtschaftsflüchtlinge sowie kriminell gewordene Zuwanderer wieder abzuschieben. Nur mit solchen Maßnahmen kann sie die Politik der offenen Grenzen gegenüber den Bürgern vertreten.
Die Erinnerung daran, dass in den 1990er-Jahren rund 70 Prozent der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aus Deutschland wieder in ihre Heimat zurückkehrten, ist eine eindeutige Botschaft an die Besorgten im allgemeinen. Vor allem aber an die in der Union. Merkel braucht Zeit und die bekommt sie nur, wenn sie ihren Kritikern eine Perspektive anbietet. Dass es weniger Flüchtlinge werden müssen, daran arbeitet sie. Dass die, die weder unter die Genfer Flüchtlingskonvention noch unter das deutsche Asylrecht fallen, das Land wieder verlassen müssen, ist beschlossene Sache. Es muss nur konsequent praktiziert werden. Jetzt sollen die, die zunächst bleiben dürfen, nicht als Neubürger begrüßt werden, sondern als Gäste auf Zeit. Der Kurs ist klar: Merkel muss das große Herz kleiner hinkriegen. Wenn nicht, droht der politisch-gesellschaftliche Infarkt.
Entscheidung im Frühjahr
In den nächsten Wochen steht viel auf dem Spiel. Drei Landtagswahlen bekommen vor dem Großthema ein Gewicht, als ginge es schon um die Bundestagswahl. Die CDU erodiert, die Schwesterpartei CSU ist zum größten Feind Merkels mutiert und der Koalitionspartner SPD wird verbal immer aggressiver. Währenddessen atomisiert sich gerade die EU. Und alles hat eine Ursache: Merkels Flüchtlingspolitik. Ohne Verbündete kann die Kanzlerin die historische Herausforderung der Völkerwanderung nicht hinbekommen. Die beiden EU-Gipfel am 18./19. Februar und am 17. März sind vermutlich die letzten Gelegenheiten, Europas Grenzen offen zu halten. Wenn nicht, ist der Schengen-Raum Geschichte.
Um ihre große politische Linie, ein Europa mit offenen Grenzen gerade in Notzeiten und ein Asylrecht ohne Obergrenze zu retten, muss Merkel im Alltag der Diplomatie, der Juristerei - und auch mit Geld - den großen Zulauf der Flüchtlinge verlangsamen. Nur so bekommt sie den Rücken frei in ihrer Partei, in der Koalition und vor allem beim besorgten Bürger.
Kein Ende der Willkommenskultur, nur eine Klarstellung
Die heftige Kritik aus den Reihen der Grünen auf Merkels Hinweis, dass Asyl in Deutschland auch ein Ende kenne, ist fehl am Platz. Es geht nicht um die Beerdigung der Willkommenskultur. Es geht um eine notwendige Reaktion auf Realitäten, die inzwischen beängstigend geworden sind. Es ist ja so: Ging es am Anfang ausschließlich um die Rettung der Kriegsflüchtlinge, so steht inzwischen der soziale Frieden in Deutschland auf dem Spiel. Und der Zusammenhalt der Europäischen Union sowieso. Merkels Flüchtlingspolitik zieht Zumutungen nach sich. Diese auszuhalten und dabei die Stabilität in Deutschland und Europa nicht aufs Spiel zu setzen, ist die große politische Kunst. Und das kann Angela Merkel nicht mehr lang meistern. Aber möglich ist es noch.
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