Das hatte es noch nie gegeben. Beim wichtigsten Filmfest der Welt schließt der Jurypräsident schon zu Beginn des Rennens um die Goldene Palme zwei Beiträge von der Preisvergabe aus. Eigentlich sind Jurymitglieder zur strikten Objektivität und Verschwiegenheit verpflichtet.
Das sah der spanische Regisseur Pedro Almodóvar, in diesem Jahr Juryvorsitzender in Cannes, offenbar anders. Er sei zwar offen für neue Technologien, doch diese sollten nicht dazu führen, dass die Institution Kino Schaden nähme, sagte Almodóvar zu Beginn des Festivals und löste damit eine Kontroverse aus. Er könne sich nicht vorstellen, dass ein Film die Goldene Palme erhält, der nicht im Kino läuft, fügte der Spanier hinzu - und machte den Eklat perfekt. Offenbar hat die Provokation gewirkt. Die erste Pressevorführung der Netflix-Produktion "Okja" wurde nach massiven Störungen unterbrochen.
Zwei Netflix-Produktionen im Wettbewerb
Was war geschehen? Das Festival hatte unter den 19 Filmen, die es für den prestigeträchtigen Wettbewerb um die Goldene Palme ausgewählt hatte, auch zwei Produktionen des Streaminganbieters Netflix zugelassen. Unterschätzt hatten die Cannes-Direktoren aber offensichtlich die Geschäftspolitik von Netflix.
Im Gegensatz zu Anbietern wie Amazon, die im Cannes-Wettbewerb 2017 ebenfalls als Co-Produzenten vertreten sind, fährt Netflix eine strikte Geschäftspolitik. Und die besagt, dass Netflix-Filme eben im Anschluss an die Cannes-Premiere nur bei Netflix laufen, das heißt auf dem heimischen Schirm der Kunden, die Netflix abonniert haben. Die Teilnahme am Wettbewerb an der Croisette wollte man als willkommene Werbemaßnahme trotzdem natürlich nutzen.
Die französischen Kinobetreiber gingen auf die Barrikaden
Die Proteste der französischen Kinobetreiber waren gewaltig. Cannes als Werbefestival für US-Streaming-Anbieter? Das könne nicht sein. Wo bleibt die Ehre des Kinos? Offenbar hatten sie Erfolg bei ihren rasch angesetzten Gesprächen mit Festivaldirektor Thierry Frémaux. Ab 2018 sollen nur noch Filme für den Wettbewerb zugelassen werden, die später auch in den französischen Kinos anlaufen.
Die Regeländerung wurde schnell beschlossen. An den Cannes-Premieren der beiden Netflix-Produktionen "Okja" des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho und "Meyerowitz Stories" des amerikanischen Independent-Regisseurs Noah Baumbach in diesen Tagen ändert das allerdings nichts mehr.
Der Streit ist Ausdruck eines derzeit in vielen Teilen der Filmwirtschaft geführten Kampfes um Abspiel-Hoheiten. Jahrzehntelang gängige Praxis war es bisher, dass Filme zunächst im Kino laufen, dann, nach einer gewissen Zeit, auf DVD angeboten werden und schließlich, wiederum nach einer Zeitspanne, im Fernsehen gezeigt werden. So können Filmproduzenten gleich mehrfach Einnahmen abschöpfen.
Mit dem Aufkommen der Neuen Medien und der Streaming-Anbieter und vor allem dem Ehrgeiz von Netflix, Amazon und Co. auch selbst als Film-Produzent aufzutreten, ist dieses jahrelang eingeübte Geschäftsmodell ins Wanken geraten. Bei den Filmfestspielen in Venedig lief vor zwei Jahren bereits das eindrucksvolle Kriegsdrama "Beast of no Nation" im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Der Film war eine Netflix-Produktion. Das wurde damals sehr kontrovers diskutiert.
In Südkorea kommt "Okja" in die Kinos
Doch Venedig zeigte sich weniger streng, vielleicht auch weil "Beast of no Nation" in Brasilien, den USA und Großbritannien später in den Kinos anlief. Bei den beiden aktuellen Cannes-Filmen will Netflix offenbar hart bleiben - zumindest auf dem europäischen und damit auch auf dem französischen Markt. Für Südkorea ist ein Kinostart angekündigt.
Man kann beide Seiten verstehen. Netflix, weil es sich schließlich um eigenproduzierte Filme handelt, mit denen der Anbieter machen kann, was er will. Er hat schließlich viel Geld in die Produktion investiert und wird schon wissen, was am besten für das eigene Geschäft ist. Man kann aber auch das Festival verstehen, das die Befürchtung hegt, dass es eines Tages zur reinen Abspielstätte für Streaminganbieter werden könnte. Das Vergnügen, einen Film auf großer Leinwand zu genießen, wäre dann nur noch einem kleinen elitären Festivalpublikum vorbehalten.
Qualität der Filme sollte im Vordergrund stehen
Zu raten ist Festivalmachern und Streaminganbietern in dieser Situation zu mehr Flexibilität und Gelassenheit. Was wäre denn, wenn sich in diesen Tagen herausstellt, dass "Okja" oder "Meyerowitz Stories" Anwärter für die Goldene Palme wären? Almodóvar hätte ein Problem. Entscheidend sollte für ein Festival doch die Qualität eines Films sein.
Auf der anderen Seite sieht es so aus, als ob es auch Netflix um eine Kraftprobe geht. Es ist ja nicht so, dass "Okja", der an diesem Freitag an der Croisette Welturaufführung feiert, gar nicht in die Kinos käme, siehe Südkorea.
Rauft Euch zusammen, möchte man allen Beteiligten zurufen, beharrt nicht auf Dogmen. Der Filmkunst würde das schaden.
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