Chaostage in Frankreich
Bei der deutschen Linken gab es in den 1960er/70er Jahren die sogenannte Chaostheorie: Danach müsste man den Staat nur solange destabilisieren, bis er zusammenbricht. Auf den Trümmern könnte dann die schöne neue Welt des Sozialismus gebaut werden. Spätestens auf diesem Punkt der ideologischen Entwicklung scheint die CGT, der französische Gewerkschaftsbund, stehen geblieben zu sein. Die Gewerkschaft legt Raffinerien lahm, Teile des öffentlichen Nahverkehrs und dehnt ihre Aktionen jetzt auch noch auf die Atomkraftwerke aus, die den größten Teil des französischen Stroms liefern. Frankreich steht ein heißer Sommer bevor.
Das Land ist verletzlich
Die Hardliner der CGT wissen, wie viel Macht sie dieser Tage über Frankreich haben. In zwei Wochen beginnt die Fußball-Europameisterschaft und die Gefahr von islamistischen Anschlägen gegen die Stadien kann auch durch aufwendigste Sicherheitsmaßnahmen nicht wirklich gebannt werden. Da wirken Streikaktionen zur Lahmlegung der öffentlichen Infrastruktur quasi als Doppelschlag: Den Fußballfans wird es schwer gemacht, die Spiele zu erreichen - oder sie bleiben vielleicht lieber gleich zu Hause, angesichts des Chaos im Gastgeberland. Und die Polizei muss sich teilen, um sowohl die Austragungsorte der EM zu schützen als auch gegen Gewerkschafter zu kämpfen, die Raffinerien und AKW lahm legen.
Damit kann die CGT auf einen Schlag eine ganze Reihe von "Erfolgen" erzielen: Frankreich steht wieder einmal als unregierbar da und internationale Investoren flüchten. Die schwache und unbeliebte Regierung Hollande muss um ihr Überleben kämpfen, das nicht einmal mehr bis zur nächsten Wahl gesichert scheint. Und die Gewerkschaft macht gleichzeitig die wirtschaftliche Erholung zunichte, auf die der französische Präsident zuletzt seine Hoffnung setzte.
Nach den Kriterien des Klassenkampfes ist das alles nur logisch. Und nach der Chaostheorie heißt das Ergebnis: Frankreich auf den Knien und freie Bahn für das Wolkenkuckucksheim der Arbeiterklasse.
Es geht nicht um die Reformen
Es geht hier überhaupt nicht um die Reformen der Arbeitsgesetze. Die Änderungen sind längst total verwässert, und ermöglichen es gerade noch, einen Arbeitnehmer unter Umständen zu entlassen und ihn gelegentlich mehr als 35 Wochenstunden einzusetzen. Und deshalb soll der französische Sozialstaat auf dem Spiel stehen, wie eine vernagelte und verantwortungslose Linke ihren Anhängern erzählt?
Tatsächlich kommt das "Reförmchen" viel zu spät. Kleine und mittlere Unternehmen in Frankreich geben auf, weil sie es sich nicht leisten können, Mitarbeiter einzustellen. Ganze Regionen bluten aus, weil Handwerksbetriebe, Läden und Restaurants schließen, denn die Gewinne reichen nicht für Mitarbeiter, Sozialabgaben, Steuern und die teure Bürokratie.
Tatsächlich ist die Gesetzesänderung, die Frankreich derzeit spaltet, kein Kniefall vor dem globalen Finanzkapitalismus. Sie ist allenfalls ein kleiner Schritt zu etwas mehr wirtschaftlicher Vernunft. Eine neue Umfrage zeigt, dass die Arbeitszeiten in der Region Paris mit rund sechs Stunden am Tag die kürzesten in Europa sind. Aber für die Gewerkschaften ist ein neoliberaler Verräter, wer sie infrage stellt.
Hinter den Streiks steckt der Machtkampf
Tatsächlich geht es hier nicht um die Sache, sondern wie meist um die Macht: Die ehemals kommunistische CGT kämpft um den 1. Platz in der französischen Gewerkschaftszene und ihre angestammte Fähigkeit, das Land nach Belieben lahm zu legen. "Alle Räder stehen still…", und so weiter. Dabei vertritt sie nur einen winzigen Bruchteil der französischen Arbeitnehmer. Allerdings hat sie noch ziemlich viele Symphaptisanten, was die Lage so brisant macht.
Präsident Hollande aber kann sich dem Druck nicht beugen, weil dies seine letzte Chance ist, noch halbwegs aufrecht im nächsten Jahr das Amt zu verlassen. Er hat lange genug dabei mitgemacht, den Stillstand in Frankreich zu betonieren. Jetzt handelt er mit dem Mut des Verzweifelten.
Gewerkschaften als Helfer der Rechtspopulisten?
Sieger dieser ideologisch vernagelten Schaukämpfe aber wird vermutlich der rechtspopulistische Front National. Die Sozialisten mit ihrem linken Flügel begehen - wie es scheint - Suizid durch Selbstzerfleischung. Und die Konservativen sind seit Jahren skandalgeschwächt und bieten dem französischen Protestwähler keine Alternative. Marine Le Pen dürfte sich die Hände reiben: Sie verspricht den Franzosen sowohl Law and Order als auch ein nationalistisches Arbeitnehmerparadies. Das ist natürlich Unsinn, könnte sie aber zur Wahlsiegerin machen.
Im Ergebnis hätten eine zersplitterte Linke und Konservative, die nicht mehr fähig zur Erneuerung sind, der harten Rechten an die Macht verholfen. Es wäre ein Déjà-Vue Erlebnis der übelsten Art: Ein Blick auf die Geschichte der Weimarer Republik sollte die Franzosen noch rechtzeitig zur Besinnung bringen.
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