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Gesellschaft

Contra: Wir sind alle verdächtig

24. August 2017

An einem Berliner Bahnhof werden für sechs Monate per Kamera Gesichter von Passanten gescannt. Es ist der Anfang vom Ende der Demokratie, meint Martin Muno.

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Berlin Südkreuz Pilotprojekt Gesichtserkennung
Bild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ist begeistert. Einen "unglaublichen Sicherheitsgewinn" sieht er durch den Modellversuch am Berliner Bahnhof Südkreuz. Würde der Minister seine Rolle eher als Bewahrer der Grundrechte sehen, denn als Innenminister, würde er sich kaum so äußern. Dann würde er wohl eher dem Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, recht geben, der mahnt: "Wir bewegen uns auf einen Überwachungsstaat zu, der uns immer weniger Luft gibt."

Seit Anfang August werden am Bahnhof Südkreuz die Systeme von drei Herstellern zur Gesichtserkennung ausprobiert. An der sechsmonatigen Testphase nehmen 300 Freiwillige teil. Dabei soll kontrolliert werden, wie gut die Systeme Versuchsteilnehmer erfassen, die an den Kameras vorbeilaufen. Ziel der Versuchsanordnung ist, dass ein Alarm ausgelöst wird, sobald ein bestimmtes Gesicht - etwa das eines Terror-Verdächtigen - von der Kamera erfasst wird.

Gestern utopisch - heute normal?

2007 wurde schon einmal ein solcher Test gestartet. Dieser Versuch am Mainzer Hauptbahnhof scheiterte, weil die Technik noch nicht ausgereift war. Heute sind wir weiter: In einigen Post-Filialen und Supermärkten werden bereits Gesichter von Kunden analysiert, um ihnen sofort auf sie zugeschnittene Werbespots zu präsentieren. Und soziale Netzwerke wie Facebook oder Suchmaschinen wie Google bringen die Gesichtserkennung mehr und mehr in unseren Alltag. 

Kommentarbild Muno Martin
DW-Redakteur Martin Muno

Der Testversuch an einem belebten Bahnhof in der Hauptstadt ist allerdings von einer anderen Qualität: Man kann zwar Geschäfte meiden, die solche Technik anwenden. Man kann vorsichtig sein, was die Verbreitung der eigenen Daten in sozialen Medien angeht. Aber sollte man sich hüten, bestimmte Plätze nicht mehr zu betreten, weil dort Kameras stehen? Damit würden weite Areale deutscher Innenstädte und fast das gesamte Netz des öffentlichen Personennahverkehrs zu No-Go-Areas für datensensible Menschen.

Unwirksam, aber allumfassend

Das Fatale an der Gesichtskontrolle im städtischen Raum ist, dass sie einerseits nicht hält, was sie verspricht, aber andererseits viel tiefer in unsere Privatsphäre eingreift, als viele denken. Sie ist unwirksam: Keiner der jüngsten Terrorakte wäre durch eine Gesichtskontrolle verhindert worden. Dafür ist sie allumfassend: Denn das geltende Personalausweis-Gesetz erlaubt es den Sicherheitsbehörden, das biometrische Lichtbild in unseren Ausweisen automatisiert aus den Datenbanken der Passbehörden abzurufen. Somit kann man jeden Passinhaber identifizieren - aus mündigen Bürgern werden potenziell Verdächtige.

Der öffentliche Raum ist in allen Demokratien von besonderer Bedeutung - das beginnt mit dem Versammlungsplatz Agora im alten Athen und gilt bis heute. Es ist der Ort für soziale Begegnungen, für öffentliche Kundgebungen und die Bewältigung von Konflikten. Es ist der Ort, an dem das Individuum auf das soziale Ganze trifft. Das Grundgesetz würdigt das in Artikel 8, in dem die Versammlungsfreiheit garantiert wird. Indem die staatliche Macht Standorte und Bewegungsprofile Einzelner durch Kameras und Gesichtserkennung jederzeit kontrollieren kann, entsteht ein gefährliches Ungleichgewicht.

Können wir garantieren, dass mit solchen Mitteln nicht nur nach Terroristen oder Schwerverbrechern gesucht wird und nicht irgendwann nach Steuersündern, Kleindealern oder - noch später - nach Ehebrechern oder politisch missliebigen Personen?

Der öffentliche Raum ist derzeit von zwei Seiten bedroht: von Terroristen, die erst Bomben und jetzt vermehrt Autos oder Messer als Waffen einsetzen. Und von Sicherheitsbehörden, die in ihrem Allmachtswahn keinerlei Rücksicht mehr auf unser Recht nach Privatsphäre nehmen. Immerhin sind letztere einem politischen Diskurs zugänglich. Diese Chance sollten wir nutzen.

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Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus@martin.muno