Kommentar: Der ewige Notnagel
6. Oktober 2013Wer Stefan Kießling beim 1:1 gegen Bayern München beobachtete, der rieb sich verwundert die Augen. Dem Torschützenkönig der vergangenen Spielzeit gelang nicht viel: kein Tor, keine Vorlage, insgesamt nur ein Schuss auf den Kasten von Manuel Neuer und dazu noch wenig Ballkontakte. Kurz vor Schluss musste Kießling sogar mit einer Fleischwunde ausgewechselt werden. Ein schlimmer Tag für einen Mittelstürmer.
Bundestrainer Joachim Löw saß auf der Tribüne und wird das alles registriert haben. Und es bestätigte wahrscheinlich seinen Entschluss, den Leverkusener erneut nicht auf dem Weg zur Weltmeisterschaft in Brasilien zu berücksichtigen, obwohl mit Miroslav Klose und Mario Gomez beide deutschen Stammstürmer verletzt ausfallen. Man könnte jetzt in Versuchung kommen, das in Zusammenhang zu bringen und großes Mitleid mit dem sympathischen Kießling zu entwickeln. Das ist einerseits gerechtfertigt, weil sich Kießling absolut fair verhält und sich weiter zur Verfügung stellt. Und zwar - laut Löw - für den Fall, wenn "ein Spieler über längere Zeit formschwach oder verletzt ist". Wann bitte soll das sein, wenn nicht jetzt? Mehr Stürmer als aktuell werden wohl nicht ausfallen.
Kießling trifft am liebsten in der Liga
Kießling kann man also keinen Vorwurf machen. Er tut das, was einen guten Mittelstürmer auszeichnet: Tore schießen. Mit 25 Treffern hat er sich in der abgelaufenen Saison die Torjägerkanone gesichert. In der aktuellen hat er immerhin in acht Spielen schon fünfmal getroffen, sowie zweimal im DFB-Pokal. International hapert's aber. In insgesamt 42 Europapokalspielen traf er lediglich neunmal, das ergibt eine Trefferquote von 0,2 pro Spiel. Das mag daran liegen, dass Leverkusen international im Vergleich mit dem Liga-Konkurrenten FC Bayern München eher defensiv ausgerichtet ist. Als einziger Stürmer hat man es dann schwer, Bälle zu bekommen.
Aber auch in der Nationalmannschaft bekam er seine Chance, war aber in sechs Länderspielen nicht ein einziges Mal als Torschütze erfolgreich. International bleibt Kießling also noch einiges schuldig. Dass der 29-Jährige nicht nur an Toren zu messen ist, sondern noch ganz andere Qualitäten hat, darf an dieser Stelle auch nicht vergessen werden: Er ist mit seinen 1,90 Metern überaus robust und zweikampfstark, kann Bälle abschirmen, arbeitet konsequent nach hinten, von wo er sich die Bälle oft selbst holt. Ein absoluter Teamplayer.
"Falscher Neuner" statt gelernter Mittelstürmer
Das alles weiß natürlich auch Löw. Dennoch kann man nicht behaupten, dass Kießlings Leistung mit der erneuten Nicht-Nominierung in irgendeinem Zusammenhang steht. Denn das Spiel des FC Bayern in Leverkusen war in Löws Augen ein Sinnbild für die Zukunft des Fußballs: Hier hat Bayer Leverkusen erlebt, wie es aussieht, wenn man nahezu über 90 Minuten gegen einen übermächtigen Gegner spielt, der eigentlich haushoch hätte gewinnen müssen: Die einsame Spitze vorne bleibt dann auch ziemlich einsam.
Bayern-Trainer Pep Guardiola macht vor, wie Löw spielen lassen will: Er bevorzugt dribbelstarke, filigrante Techniker, leichtfüßige Künstler. Und Guardiola setzte in Leverkusen auf Thomas Müller als "falschen Neuner", also auf einen nicht gelernten Mittelstürmer. In dem "modernen Konzept" ist also kaum noch Platz für nicht mehr ganz so junge, reine Mittelstürmer. Scheinbar passen die jüngeren Spieler Max Kruse oder auch Kevin Volland besser. Alles nachvollziehbar. Dass Löw sich dennoch ein Hintertürchen offen- und Kießling weiter hinhält, erinnert jedoch ein bisschen an die Nationalelf-Schicksale von Michael Ballack oder Kevin Kuranyi. Und Kießling wird immer mehr zum ewigen Notnagel.