Libanon braucht mehr als Wut und Empörung
"Gut gemeint" ist das Gegenteil von "gut gemacht", sagt man in Deutschland gern. Ob der Spruch universal gültig ist, sei dahin gestellt. Aber er passt sehr gut, um das komplizierte politische System des Libanon zu beschreiben, dessen handfeste Nachteile den kleinen Zedernstaat derzeit wieder in eine schwere Krise stürzen.
Es war eindeutig "gut gemeint", als sich die Libanesen nach Ende der französischen Herrschaft 1943 auf eine komplizierte Machtaufteilung zwischen Schiiten, Sunniten, Drusen und unterschiedlichen christlichen Konfessionen einigten. Es hatte sogar eindeutig positive Folgen: Bis heute ist garantiert, dass Ämter, Posten sowie das gesamte politische System nicht von einer einzigen Gruppe dominiert werden können. Es gibt - zumindest im Grundsatz - demokratische Wahlen. Und auch die Medien sind im Libanon freier als in vielen anderen Ländern der Region, wenngleich sie dabei oft bestimmten Gruppen als Sprachrohre dienen.
Patronage und Korruption
Nicht "gut gemacht" war jedoch von Anfang an die Umsetzung der libanesischen Multikonfessions-Demokratie. Immer wieder blockierten sich die verschiedenen Gruppen gegenseitig und riefen ausländische Unterstützer als "Schutzpatrone" um Hilfe, um innenpolitisch ihre Interessen besser gegen die anderen durchsetzen zu können. Dadurch wurden sie oft selbst zum Spielball der Interessen ausländischer "Schutzmächte" wie Saudi-Arabien, Syrien, Iran oder auch westlicher Staaten wie Frankreich und den USA.
Parallel dazu baute jede Konfessionsgruppe von Beginn an eigene Parteien und eigene soziale Patronage-Strukturen auf, so dass in der Region nur allzu bekannte Phänomene wie Korruption und Vetternwirtschaft im Vergleich zu arabischen Ländern mit einheitlicher Führung sogar vervielfacht wurden. Zudem musste der Libanon neben einem schweren Bürgerkrieg und Jahrzehnten syrischer De-Facto-Herrschaft auch sehr große Flüchtlingszuwanderungen von kriegsvertriebenen Palästinensern und Syrern sowie mehrfach blutige militärische Auseinandersetzungen mit dem Nachbarn Israel überstehen.
Wut und Empörung lassen sich nicht zügeln
Der jetzige Konflikt hat sich an Fragen entzündet, die vor allem mit der Korruption und schweren Wirtschaftskrise des Landes zu tun haben - vor allem eine sogenannte "Whats-App-Steuer", die nicht zuletzt bei jungen Libanesen auf derart viel Empörung stieß, dass sie gleich wieder einkassiert wurde. Doch Wut und Empörung ließen sich nicht mehr zügeln und richten sich nun schon seit Tagen gegen die gesamte politische Klasse des Landes.
"Das Volk will den Sturz des Regimes", skandieren Hunderttausende auf den Straßen in Beirut und anderen libanesischen Städten - ein Slogan, der von den Bewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 und 2012 übernommen wurde. Viele Libanesen halten ihre Politiker inzwischen offenbar konfessionsübergreifend für "Diebe" und "Verbrecher" und fordern den Rücktritt des gesamten politischen Personals, unabhängig davon, ob es um Sunniten, Schiiten, Christen oder Drusen geht.
Hoffnungszeichen, aber auch Gefahren
Es ist durchaus ein Hoffnungszeichen, dass viele Libanesen nun zunehmend bereit scheinen, die religiös und politisch motivierten Gegensätze der Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich konfessionsübergreifend hinter einem gemeinsamen Anliegen zu versammeln. Das macht Mut für die Zukunft und verdient Unterstützung, nicht nur aus Europa. Allerdings ist auch Vorsicht angesagt, denn jenseits des Sturzes ihrer im Überdruss präsenten Politiker fehlt den Demonstranten bisher eine klare Vision, wie das jetzige System überwunden und von Korruption befreit werden könnte, ohne den damit verbundenen Schutz für sämtliche Bevölkerungsgruppen zu opfern.
Zudem lehrt die Erfahrung, dass im Extremfall eine einzelne Gewalttat, ein falsches Wort, ein Missverständnis oder auch eine gut inszenierte politische Intrige ausreichen können, um viele Libanesen wieder in Richtung einer anderen Agenda zu treiben oder gegeneinander auszuspielen. Dies darf diesmal nicht passieren! Alle Beteiligten sollten sich in der jetzigen aufgeheizten Stimmung für Gewaltfreiheit einsetzen, insbesondere die staatlichen Sicherheitskräfte! Aber auch die Demonstranten auf den Straßen wären gut beraten, das nun von ihrer ungeliebten Regierung beschlossene wirtschaftliche Reformpaket erst einmal kritisch zu prüfen und gegebenenfalls konkrete Gegenforderungen zu entwickeln, bevor sie ohne eine klare Zukunftsvision im Libanon vorschnell die Systemfrage stellen.