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Politik

Deutschland steuert auf Neuwahlen zu

30. November 2019

Im Rennen um den Parteivorsitz hat sich die SPD für zwei erklärte Gegner der großen Koalition entschieden. Wenn die beiden sich durchsetzen, dürfte die Merkel-Regierung Geschichte sein, meint Sabine Kinkartz.

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SPD Landesparteitag Symbolbild SPD Kurs
Bild: picture-alliance/dpa/F. von Erichsen

Wer hätte das gedacht? Die SPD hat sich für die Revolution entschieden. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, zwei bislang weitgehend unbekannte Sozialdemokraten, die eindeutig dem linken Lager zuzuordnen sind und die keinen Hehl daraus machen, dass sie keinen Wert auf eine Fortsetzung der Regierungskoalition mit CDU und CSU legen, sollen SPD-Vorsitzende werden. So haben es die Mitglieder in einer Urwahl entschieden. Knapp zwar, aber deutlich.

Alle, die in der SPD bislang etwas zu sagen haben, sind düpiert. Egal ob Bundesminister oder Ministerpräsidenten. Die gesamte Politprominenz hatte sich vor der Wahl klar für das andere Kandidatenpaar, für Bundesfinanzminister Olaf Scholz und die brandenburgische Landespolitikerin Klara Geywitz ausgesprochen. Kein Wunder. Schließlich hatten die beiden versprochen, die Regierung mit der Union bis zum Herbst 2021 fortsetzen zu wollen.

Wer will schon Macht und Einfluss abgeben?

Es war auch das Versprechen gewesen, wieder Ruhe in den Regierungsbetrieb bringen zu wollen. Mit Blick auf das kommende Jahr, in dem Deutschland den EU-Ratsvorsitz innehaben wird, und mit Blick auf die Umfragewerte von SPD und CDU, die in beiden Parteien wenig Lust auf Wahlen machen. An politischem Selbstmord ist niemand interessiert, der es in die erste Reihe geschafft und damit viel zu verlieren hat.

Das sieht bei Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken anders aus. Er ist 67 Jahre alt und hatte sich eigentlich schon aufs Altenteil zurückgezogen. Sie ist 58 Jahre alt, erst seit wenigen Jahren politisch aktiv und hat in der Bundestagsfraktion nicht viel zu sagen. Die beiden sind der Überzeugung, dass die SPD nur deswegen so schlecht dasteht, weil sie sich zu weit in die politische Mitte bewegt hat. Die zukünftigen SPD-Vorsitzenden wollen zurück zu den sozialistischen Wurzeln und mit einem radikalen politischen Kurswechsel einen Neuanfang einläuten.

Nur eine Woche bis zum Parteitag

Das werden sie am kommenden Wochenende dem SPD-Parteitag empfehlen. Dort werden sie zunächst offiziell gewählt, denn das dürfen nur die Delegierten, die sich aber an das Votum der Mitglieder halten werden. Das gilt als sicher. Spannend dürfte anschließend werden, wie schnell und auf welche Art und Weise Esken und Walter-Borjans den Ausstieg aus der Koalition vorantreiben.

Kinkartz Sabine Kommentarbild App
DW-Korrespondentin Sabine Kinkartz

Eigentlich soll der Parteitag über die Zukunft der GroKo entscheiden. Die neuen Vorsitzenden geben aber eine Empfehlung ab. Saskia Esken hatte anfangs unverblümt darauf bestanden, dass die SPD aussteigen muss. Inzwischen hat sie ihre Taktik geändert und fordert, den Koalitionsvertrag neu zu verhandeln. Das könnte der Versuch sein, der Union die Schuld für ein Scheitern zuzuschieben. Denn die Marschrichtung ist klar: Wenn die Union nicht nachgibt, dann bleibt der SPD keine andere Wahl als der Ausstieg. 

Programmiertes Scheitern

Natürlich ist absehbar, dass die Union sich nicht darauf einlassen wird, Arbeitslose wieder bedingungslos staatlich zu finanzieren, den Mindestlohn sofort auf mindestens zwölf Euro anzuheben und eine Vermögenssteuer einzuführen. Einzig die Forderung, das Klimapaket zu verschärfen, könnte Erfolg haben, zumal auch die Bundesländer das fordern.

Für Deutschland sind das keine guten Aussichten. Anstatt sich wieder auf die Regierungsarbeit zu konzentrieren, werden sich die Sozialdemokraten absehbar weiter mit sich selbst beschäftigen und damit auch die Bundesregierung lähmen. Das gibt auch den Christdemokraten Zeit und Gelegenheit, ihren innerparteilichen Zwist über die Parteiführung und die Kanzlerkandidatur wieder aufleben zu lassen, den sie gerade mühsam zumindest notdürftig zugeschüttet hatten.

Zur Not eine Minderheitsregierung

Ob Union oder SPD - am Ende könnten alle als Verlierer dastehen. Insbesondere, wenn es tatsächlich auf Neuwahlen hinauslaufen sollte. Zwar könnte es sein, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchen würde, zumindest für die Dauer der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit einer Minderheitsregierung ein gewisses Maß an Stabilität zu wahren. Aber danach würde unweigerlich das Aus kommen.

Von Neuwahlen würden am meisten die Grünen profitieren, zumindest wenn man die derzeitigen Umfragewerte zugrunde legt. Hoffnungen macht sich auch die Linkspartei, die in den zukünftigen SPD-Vorsitzenden natürliche Verbündete sieht. Allerdings müssten sich Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken dafür in ihrer Partei auch durchsetzen. An der Basis hat jeder zweite zwar für sie gestimmt, fast jeder zweite aber für Olaf Scholz und Klara Geywitz. Und, wie schon erwähnt: Das gesamte Parteiestablishment ist gegen die Neuen.

Ob sie ihren Widerstand einfach so aufgeben und nun die Reihen hinter den Siegern schließen, darf bezweifelt werden. Das hat in der SPD noch nie funktioniert. Wahrscheinlicher ist, dass der rechte Parteiflügel keineswegs in der durch das Wahlergebnis ausgelösten Schockstarre verharren und einfach nur dabei zugucken wird, wie Esken und Walter-Borjans die Partei umkrempeln wollen.

Kurs in den Abgrund

Stattdessen ist durchaus denkbar, dass sich die Sozialdemokraten in den nächsten Wochen und Monaten in einem parteiinternen Richtungskampf dermaßen zerstreiten und zerlegen werden, dass sich noch mehr Wähler abwenden und die älteste deutsche Partei am Ende im politischen Nirwana verschwinden wird. Zu wünschen wäre das nicht. Aber möglich ist bei der SPD inzwischen alles.