Kommentar: Die EU muss Konsequenzen ziehen
29. November 2005Wie immer, wenn Streitkräfte oder offizielles Personal eines Staates in einem befreundeten oder verbündeten Staat stationiert sind oder auf dessen Territorium agieren, regelt ein Truppenstatut die Kompetenzen beider Seiten. Unter anderem, wer im Zweifelsfall die Jurisdiktion über diese Leute hat und natürlich auch, was sie zu tun und was zu lassen haben. Das NATO-Truppenstatut regelt das im Fall der US-Amerikaner in Europa.
"Verschiebe-Verkehr"
Dieses Statut dürfte aber kaum weit genug gehen, um zu decken, was man der Regierung in Washington jetzt unterstellt: Dass sie europäische Staaten - und hier besonders seine Luftwaffenbasen in Deutschland - zur Drehscheibe eines völkerrechtlich höchst dubiosen, wenn nicht unzulässigen "Verschiebe-Verkehrs" von Terrorverdächtigen gemacht habe. Und dass sie in einigen europäischen Staaten sogar geheime Gefängnisse unterhalten habe, in denen solche Häftlinge gefoltert und zu Aussagen gezwungen worden seien. Diese Anschuldigung geistert zumindest seit Tagen durch die Medien und löst politische Empörung aus - obwohl die Dinge offenbar schon länger zurückliegen und obwohl bisher auch keinerlei Beweise für ein solches Vorgehen vorliegen.
Verantwortung Europas
Aber es wäre zu einfach, bloß eine Kampagne gegen die Vereinigten Staaten zu betreiben - wo solche Vorwürfe immerhin zuerst aufkamen und inzwischen auch untersucht werden. Die Europäer müssen sich hier zunächst an die eigene Nase fassen: Hatte das politische Europa sich nach dem 11. September nicht am NATO-Bündnisfall beteiligt und den USA weit reichende Freiheiten etwa zum Überfliegen Europas eingeräumt? Und hatte dasselbe Europa nicht kleinlaut geschwiegen angesichts bekannter und belegbarer Menschenrechtsverletzungen durch Washington? Wie etwa im Gefangenenlager von Guantanamo, Lagern in Afghanistan oder auch in dem Gefängnis Abu Ghraib im Irak? Natürlich gab es keinen europäischen Politiker, der dies gut geheißen hätte. Aber auch keinen, der in Washington energisch genug darauf gedrängt hätte, solche Praktiken einzustellen.
Europa muss Beschweid gewusst haben
Betroffen fühlen sich die europäischen Spitzenpolitiker erst, seitdem ihnen eine Art Komplizenschaft unterstellt werden könnte. Denn soviel scheint doch festzustehen: Die CIA kann Gefangene ebenso wenig in Europa wie in totalitären nahöstlichen Staaten inhaftieren und verhören, ohne dass offizielle Stellen davon wüssten und damit einverstanden wären.
Die Europäer müssen deswegen zuerst einmal auf dem eigenen Kontinent anfangen und untersuchen, ob die Berichte überhaupt zutreffen und ob es solch willfährige Helfershelfer der CIA in der einen oder anderen Hauptstadt gab oder gibt. Wird man fündig, dann muss man Konsequenzen daraus ziehen. So, wie EU-Justizkommissar Franco Frattini jetzt drohte, solchen Staaten das Stimmrecht zu entziehen.
Letztlich kann es bei den Untersuchungen vermutlich nur darum gehen, ob der CIA geheime Folter-Gefängnisse in Europa unterhielt oder unterhält. Dass er mit Gefangenen an Bord in Europa zwischenlandet, wird man ihm kaum je nachweisen können, weil Passagiere nicht genannt werden. Als die USA kürzlich Passagierlisten europäischer Transatlantik-Flüge forderten, da lehnte Brüssel empört ab. Und nun sollte der CIA den Europäern sagen, wer sich an Bord ihrer Flugzeuge befindet?