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Die Wiederkehr des Verdrängten

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
3. September 2015

In den User-Foren vieler Online-Medien wird über Flüchtlinge in teils brutalem Ton diskutiert. Hier äußern sich die, die im etablierten Diskurs nicht zu Wort kommen. Das ist beunruhigend, meint Kersten Knipp.

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Ankömmlinge im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Friedland, 25.08.2015 (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/S. Pförtner

Was immer man von der Psychoanalyse Sigmund Freuds halten mag - der Mann hat einige nützliche Begriffe hinterlassen: Ich, Über-Ich, Drang und Projektion. Ein Vokabular, das eigentlich auf die Psychoanalyse gemünzt ist, sich aber auch eignet, die derzeitige öffentlichen Debatte um Flüchtlinge und Asylbewerber zu beschreiben. Kein anderer Begriff beschreibt diese derzeit besser als der von der "Wiederkehr des Verdrängten".

Dieses Verdrängte findet sich derzeit in den Nutzer-Foren deutscher Online-Medien. Hier äußert es sich: vielfach zynisch, fast immer roh und ungestüm, mitunter auch hasserfüllt. In wilder, oft vor Schreibfehlern strotzender Sprache ist da nachzulesen, was die Leser und Zuschauer von der deutschen Flüchtlingspolitik halten. Und es ist gewiss keine Übertreibung, wenn man feststellt: Nicht alle sind begeistert.

Sprache des Hasses

Eigentlich muss man sogar sagen: Es sind sogar sehr viele nicht begeistert. Ihre Vorbehalte äußern sie oftmals in einer Sprache, die man sonst nur von der Straße, wenn nicht der Gosse kennt. Es gibt Beleidigungen und Schmähungen an die Adresse der Journalisten, die bisweilen "Verräter" genannt werden, die es zu identifizieren gelte. Manches hat den Charakter eines Aufrufs zur Selbstjustiz. Im Netz artikuliert sich der gesamte Zorn von Menschen, die von den aktuellen Entwicklungen und deren medialer Darstellung wenig angetan sind.

Der vielfach aggressive Ton führt zu der Frage, woher dieser Zorn sich nährt. Eine der Antworten lautet wohl: Weil in den zivilisierten Instanzen, sprich den etablierten Medien, derzeit eine ungewöhnliche, vielleicht sogar nie dagewesene Übereinstimmung herrscht. Es ist, als gäbe es eine stillschweigende Übereinkunft: Angesichts des gewaltigen menschlichen Leids wird über die Migrationsbewegung Richtung Europa nur positiv berichtet. Kritische oder auch nur skeptische Nachfragen? Nein danke!

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DW-Autor Kersten Knipp

Dieses Schweigen zeigt vor allem eines: Die Journalisten haben Angst. Angst, mit kritischen Anmerkungen und Nachfragen diejenigen zu befeuern, die ihrem Hass freien Lauf lassen, Flüchtlinge anpöbeln, deren Unterkünfte anzünden und die nicht einmal vor Mord zurückschrecken. Wegen solcher Zeitgenossen ist Zurückhaltung angebracht. Sie ist angebracht, weil einige den Unterschied zwischen kritischen Fragen und plumpem Hass schlicht nicht begreifen.

Eingeschränkte politische Debatte

Andererseits schränkt diese Sorge die mediale Debatte auf sehr seltene Weise ein. Normalerweise wird in den deutschen Medien nach Kräften gestritten, werden die Problem des Landes offen und in aller Schärfe diskutiert. Journalisten wägen Pro und Contra ab, scheiden das Wünscheswerte vom zwingend Notwendigen, das Machbare vom Unmöglichen. In der Flüchtlingsdebatte fällt dieser Streit aus, nahezu komplett.

Dabei liegen die drängenden Fragen auf der Hand: Schafft Deutschland die Integration wirklich? Wie viele Flüchtlinge kann ein Land bewältigen? Was ist mit den sozialen Folgen der Massenzuwanderung, ihren Auswirkungen auf Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie die sozialen Systeme?

Kafka lässt grüßen

Dass sie nicht gestellt werden, stört viele derjenigen Leser, die sich derzeit in den Nutzer-Foren der Online-Medien äußern. Zumindest die Empfindsamen unter ihnen gehen in ihren Wortmeldungen zunächst einmal mit sich selbst ins Gericht: Sind sie, die Skeptiker, die sich selbst eigentlich zur politischen Mitte zählen, plötzlich Fanatiker vom rechten Rand? Gehören sie noch zum "hellen Deutschland", das Bundespräsident Joachim Gauck vor wenigen Tagen erst vom "Dunkeldeutschland" der Brandstifter und Rassisten unterschied? Oder haben sie sich, wie Gregor Samsa aus Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", über Nacht in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt - ein ungeheures Ungeziefer aus dem Reich der Fremdenfeinde und Nationalisten?

Die Debatte um die Flüchtlinge wirkt seltsam einseitig. Und sie wird mit einem moralischen, vielleicht auch nur moralisierenden Unterton geführt. Der tut ihr und dem Land nicht gut. In den Kommentaren der Leser zeigt sich, dass das Verdrängte wiederkehrt, und zwar in denkbar unangenehmer Form.

Umso mehr kommt darauf an, es einzubinden, auch und gerade medial. Allen Pöbeleien zum Trotz muss die Diskussion über die kommenden Herausforderungen langfristig offener, kritischer, vielstimmiger werden. Denn Fragen nicht zu stellen heißt nicht, dass es diese Fragen nicht gibt.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika