"Die Zukunft der Arbeit gestalten wir!"
Seit ziemlich genau 125 Jahren, in der Folge blutiger Arbeiterproteste in der amerikanischen Metropole Chicago, nutzen die Gewerkschaften den 1. Mai als Protest- und Feiertag im Kampf für mehr Lohn und mehr Rechte für die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Welt. In Deutschland haben sich die Politiker lange gegen den 1. Mai als Feiertag gesperrt, bis ausgerechnet die Nationalsozialisten ihn zum Tag der Arbeit erklärten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte der Deutsche Gewerkschaftsbund den Tag immer wieder, um Kampagnen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu starten - wie zum Beispiel Mitte der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Gewerkschaften den Arbeitgebern die Fünftagewoche abtrotzen wollten. Sie kam schließlich, und der damalige Slogan ist unvergessen: "Samstags gehört Vati mir!"
Indes: Eine so durchschlagende Wirkung wie der Slogan zur Fünftagewoche haben die Losungen der deutschen Gewerkschaften selten gehabt, wenn es um das Motto zum Tag der Arbeit ging. Kann sich noch jemand an das Motto nach dem Fall der Mauer erinnern? "Teilen verbindet" hieß es - und hat damals sehr viel Stirnrunzeln ausgelöst.
Diesmal reklamiert der Deutsche Gewerkschaftsbund zum 1. Mai: "Die Zukunft der Arbeit gestalten wir!" Oh weh. Das klingt wie das Pfeifen im Walde, das klingt trotzig, und das klingt eher wie ein frommer Wunsch, etwas zurückzuholen, was längst entglitten zu sein scheint.
Denn Gewerkschaften erleiden das gleiche Schicksal wie christliche Kirchen und Sportvereine: Ihnen laufen die Mitglieder weg, es fehlt der Nachwuchs, und Frauen sind oft unterrepräsentiert. So ist es kein Wunder, dass Gewerkschafter immer wieder darüber klagen, der Tag der Arbeit werde immer mehr zum Chillen im Biergarten genutzt, aber kaum noch zur Demo auf der Straße für mehr Arbeitnehmerrechte.
Das hat Gründe: Einmal haben die deutschen Gewerkschaften seit fast einem Vierteljahrhundert einen Mitgliederschwund zu verkraften gehabt, der mit einem scheinbaren Verlust an Bedeutung und Gestaltungsmacht einherging. Zum anderen haben die Gewerkschaften in Deutschland ein ganzes Jahrzehnt damit verbracht, für den Erhalt von Arbeitsplätzen zu kämpfen, haben Beschäftigungssicherung vor den Wunsch nach mehr Lohnprozenten gestellt. Mit anderen Worten: Sie haben sich in Bescheidenheit geübt, die anderen Euroländern besser angestanden hätte - mit dem Ergebnis, dass aus dem ehemals kranken Mann Europas eine Lokomotive geworden ist.
Das war gut, das war richtig, das hat die Lohnstückkosten gesenkt, wie die Ökonomen sagen, und das hat Deutschland wettbewerbsfähiger als seine Nachbarn gemacht. Dennoch fürchte ich: Die Zukunft der Arbeit gestalten nicht die Gewerkschaften. Die Zukunft der Arbeit wird in entwickelten Industrienationen wie Deutschland oder Japan wohl eher von der demografischen Entwicklung geprägt, von einer zunehmend alternden Gesellschaft.
Und die Zukunft der Arbeit wird von Ingenieuren und IT-Spezialisten gestaltet, die an der Produktion der Zukunft arbeiten, genannt "Industrie 4.0". Studien der Universität Oxford sagen voraus, dass in 20 Jahren jeder zweite Arbeitsplatz von der Automatisierung und Digitalisierung betroffen sein wird. Sie beschränkt sich damit längst nicht mehr auf das klassische Fließband, sondern erfasst auch Berufe mit höheren Qualifikationen.
Das löst Ängste aus: Geht uns die Arbeit aus? Ist mein Job noch sicher? Die Gewerkschaften, nehme ich an, werden in diesen Zeiten eher eine konservative, die alten Zustände möglichst bewahrende Rolle einnehmen - nicht aber die Zukunft der Arbeit gestalten. Höchstens mitgestalten. Was aber gar nicht so fatal sein muss, wie es klingt. Denn überall dort, wo der technische Fortschritt die klassische Arbeitswelt durcheinanderwirbelt, wo das Ende des üblichen Arbeitstages vorausgesagt wird, wo den Menschen ein lebenslanges Berufsnomadentum angedroht wird, kann es keinesfalls schaden, wenn Gewerkschaften ein gehöriges Wörtchen mitreden. Auch in Zukunft.
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