Erdogan hat sich überschätzt
9. Januar 2014Bis zum Sommer vergangenen Jahres hätte wohl niemand damit rechnen können, dass 2014 mit einer internationalen Diskussion über die politische Zukunft des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan beginnt. Von den heftigen innenpolitischen Zerreißproben in seinem Land ganz zu schweigen. Zu positiv war - zumindest nach den Statistiken - die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, die religiös-konservative AKP regiert (noch) mit beneidenswerter absoluter Mehrheit und das Ansehen der Türkei in ihrem geopolitisch fragilen Umfeld als stabilisierender Faktor war gut.
Doch Erdogan hat sich im Gefühl der unerschütterlichen politischen Überlegenheit gänzlich überschätzt. Das Fehlen einer durchschlagskräftigen parlamentarischen Opposition erhöhte seinen Glauben an seine Unfehlbarkeit. Das Krisenmanagement während der Gezi-Park-Proteste war eines demokratischen Landes nicht würdig. Die Polizei ging gegen die Demonstranten und Andersdenkende teilweise sehr brutal vor. Zudem wurden viele Journalisten und vor allem die frühere Führungsriege der türkischen Armee wegen angeblicher Putschpläne mit Hilfe einer Erdogan kaum widersprechenden Justiz zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Die Suche nach Verbündeten
Doch inzwischen hat sich das Blatt gegen Erdogan gewendet. Die wirtschaftlichen Daten stimmen schon längst nicht mehr froh, die Korruption hat sich bis in die Familien von Ministern vorgefressen. Auch Erdogan blieb von den Ermittlungen von Staatsanwälten und der Polizei nicht verschont und sein Sohn geriet ins Visier der Ermittelnden. Erdogan fühlte sich immer mehr an die Wand gestellt und machte in seiner Panik folgenschwere Fehler: zuerst ließ er nacheinander viele Staatsanwälte versetzen bzw. vom Dienst suspendieren. Und danach wurden Hunderte führende Polizeibeamte und gar Polizeidirektoren in mehreren Provinzen entweder in die Zentrale zurückbeordert oder strafversetzt.
Die Justiz, die bis vor einigen Monaten noch ohne Widerspruch Erdogan zur Erreichung seiner Ziele unterstützt hatte, wurde vom Regierungschef im Verlauf von Korruptionsermittlungen des Putschversuchs beschuldigt. Es wurde einsam um Erdogan. Ratlos auf der Suche nach neuen Verbündeten scheut er inzwischen nicht mal davor zurück, die Verfahren gegen die verurteilten früheren Kommandierenden der Armee neu aufzurollen - weil sie "Opfer von Verschwörungen" geworden sein könnten. So möchte er die Offiziere auf seine Seite gewinnen.
Erdogan möchte Präsident werden
Nein, Erdogan sitzt längst nicht mehr so fest im Sattel wie noch bis vor kurzem. Schuld daran ist nicht zuletzt der seit 1999 in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen. Seiner nach ihm benannten Bewegung wird nachgesagt, Teilbereiche des Staatsapparats wie Justiz und Polizei unterwandert zu haben, um Erdogan weiter zu schwächen. Gülen ist inzwischen in der Türkei sehr mächtig. Darüber hinaus findet er mit seiner These über die Fähigkeit des Islam zur Koexistenz mit der Demokratie auch international immer mehr Gehör.
Wie es in der Türkei, dem für Europas Interessen besonders wichtigen Land, weitergehen wird, ist noch nicht zu erkennen. Die landesweiten Kommunalwahlen Ende März könnten Aufschluss darüber geben, ob Erdogans AKP mit einer Wiederholung oder gar mit einem Ausbau des Stimmenanteils von zuletzt 50 Prozent bei den Parlamentswahlen vor drei Jahren rechnen kann. Das wäre nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die Amtszeit von Staatspräsident Abdullah Gül Ende August ausläuft. Von Erdogan ist bekannt, dass er zu gerne selbst Präsident einer Türkei mit einem Präsidialsystem sein möchte. Seine Chancen darauf sind allerdings nach seinem gescheiterten Krisenmanagement seit Sommer vergangenen Jahres stark gesunken.