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Politik

Es geht um uns

8. Mai 2020

Das Gedenken an das Ende des Nationalsozialismus musste sich wegen Corona auf einen kleinen Rahmen beschränken. Es bot aber dennoch die Bühne für eine alarmierende Rede des Bundespräsidenten, meint Christoph Strack.

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75. Jahrestag Ende zweiter Weltkreig - Frank Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor der Neuen Wache in BerlinBild: Reuters/H. Hanschke

Das Staatsoberhaupt in Deutschland ist für die wichtigen Reden zuständig, die wegweisenden großen und kleinen Gesten, die relevant sind für die Gesellschaft. Er hat die Macht des Wortes und nicht viel mehr. Dabei geht es um die großen Themen: den Zusammenhalt in der Welt, in einem Land der Vielfalt und der Zerrissenheit, in einem Land mit so vielen wunderbaren Menschen - aber auch manchen Idioten.

Als Frank-Walter Steinmeier im Februar 2017 zum Bundespräsidenten gewählt worden war, prägte das Wort "Mut" als Kernbegriff seine erste Rede. Ja, damals wurde noch leise über den Redner Steinmeier gespöttelt. Wer einmal Außenminister war (und der heute 64-Jährige war das zwei Mal), pflegt den sachbetonten, geduldigen Vortrag und zeigt weniger die große Empathie. Aber Steinmeier hat seitdem seinen Stil gefunden. Und er ist in einem Jahr mit so großen wie schwierigen Reden - vom 30. Jahrestag des Mauerfalls über das Holocaust-Gedenken 75. Jahre nach der Befreiung von Auschwitz bis zum Jahrestag des Kriegsendes, vom Synagogen-Anschlag in Halle bis zu den rassistischen Morden in Hanau - als Mahner zu einem Leuchtturm geworden.

Nichts ist auf ewig gesichert

Vom Mut sprach er im Februar 2017. Aber schon damals ging er auch auf den Anspruch ein, "Fakt und Lüge zu unterscheiden. Diesen Anspruch müssen wir an uns selbst stellen." Das ist über drei Jahre her. Aber irre Hass-Parolen, kriminelle Verschwörungstheorien und Fake News verunsichern Politik und Gesellschaft immer weiter - im kleinen wie im großen wie sogar im ganz großen.

Deutsche Welle Strack Christoph Portrait
DW-Hauptstadtkorrespondent Christoph StrackBild: DW/B. Geilert

Beim Gedenken an den 75. Jahrestag des Kriegsendes hat der Bundespräsident am Freitag in Berlin aus dem Gedenken ein Vergegenwärtigen gemacht: Nichts ist sicher. Nichts ist "auf ewig gesichert". Und das, so mahnt Steinmeier, gilt auch für Freiheit und Demokratie, die Grundfesten dieses Landes. Gerade dieses Landes, das bis 1945 den Totalitarismus so brutal durchlebte und teuflisch in weiten Teilen Europas zelebrierte.   

Steinmeiers Rede ist ein Appell zum gemeinsamen Erinnern an Familiengeschichten und gemeinsame deutsche Geschichte. Das sind sowohl Täter-Geschichten als auch Opfer-Tragödien. Eigentlich kommt, da neben den letzten Zeitzeugen auch die ersten Nachgeborenen bald sterben, dieser Appell zu spät. Aber letztlich ist es nie zu spät. Denn dieses Land zerbricht, wenn es das Gemeinsame nicht sucht und pflegt. Dazu gehört übrigens auch das Nachdenken über Feiertage und Gedenktage: Der deutsche Nationalfeiertag am 3. Oktober ist in der Vereinigung von Ost und West 1990 grundgelegt. Aber er wiegt weder den 9. November noch den 8. Mai auf. 

Alarmierende Worte

Täuschen wir uns nicht: Die Worte Steinmeiers an diesem Gedenktag des Kriegsendes sind alarmierend. Er zitierte ein Wort des israelischen Präsidenten aus dessen Rede beim Holocaust-Gedenken im Bundestag Ende Januar: "Wenn es hier geschehen kann, kann es überall geschehen." Da klingt das "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen" des Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi (1919-1987) mit. Das Vergangene ist vergangen, aber es ist.

Die Versuchung eines neuen Nationalismus, die Faszination des Autoritären, Hass und Hetze und Demokratieverachtung - Steinmeier nannte diese gegenwärtigen Gefährdungen des Gemeinwesens und der Gesellschaft. Die Macht dieser Worte wäre, alle wachzurütteln: Es geht um uns, es geht um hier und jetzt.