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Kommentar: Es wird keinen Zufalls-Weltmeister geben

Joscha Weber, z. Zt. in Santo André12. Juni 2014

Wer hat das Zeug zum Weltmeister? Ganz einfach: Das Team, das sich physisch und taktisch am besten auf das Klima eingestellt hat. Denn es wird eine darwinistische WM, meint DW-WM-Reporter Joscha Weber.

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DW-Sportredakteuer Joscha Weber. Foto: DW
Bild: DW

Diese merkwürdigen Engländer, wird manch einer gedacht haben. Kürzlich waren an der portugiesischen Algarve skurrile Szenen zu beobachten: Bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen rannten die englischen Nationalspieler dick eingepackt in Trainingsjacke, Pullover, lange Unterhose, lange Trainingshose, Handschuhe und sogar Mütze über den Trainingsplatz. Das sah lustig aus, war aber ernst gemeint. Mit dieser Maßnahme wollte Auswahltrainer Roy Hodgson seine Spieler auf Luftfeuchtigkeit und hohe Temperaturen in Brasilien vorbereiten. In manchen WM-Städten sind Temperaturen von bis zu 40 Grad Celsius möglich, der Amazonas-Spielort Manaus hat eine durchschnittliche Luftfeuchtigkeit von 83 Prozent und obendrein beginnen viele WM-Spiele mittags oder nachmittags in der prallen Hitze. Besondere klimatische Bedingungen erfordern besondere Trainingsmaßnahmen, dachte sich Roy Hodgson - und hatte damit recht. Denn: Diese WM wird über die Physis entschieden.

Im Vergleich zu den WM-Turnieren der jüngeren Vergangenheit wird der Faktor Klima eine deutlich wichtigere Rolle spielen. Viele Mannschaften bereiteten sich intensiv auf die Bedingungen in Brasilien vor, arbeiteten an der Fitness, probten taktische Alternativen, um im Spiel Kraft zu sparen. Ein "Turnier der Strapazen" kündigte Bundestrainer Joachim Löw seiner Mannschaft nicht nur wegen der langen Reisen zu den Spielen an, und die ersten Erfahrungen in Brasilien bestätigen diese These: "Man schwitzt nach drei Metern", fasste Kapitän Philipp Lahm den Trainingsalltag zusammen.

Erfolgsrezept: Taktische Disziplin, Fitness und hohe Motivation

Wer in Brasilien um den Titel mitspielen will, muss darauf reagieren. Laufintensiver Hurra-Fußball über 90 Minuten ist utopisch und Ballbesitz-orientierter Pep-Guardiola-Stil mit ständiger Anspielbereitschaft wohl auch nicht über die volle Distanz durchzuhalten. Das Erfolgsrezept ist eine Mixtur aus taktisch diszipliniertem Defensivspiel mit wohl dosierten Vollgas-Intervallen. Genauso zu beobachten übrigens vor einem Jahr beim Confederations Cup: Gastgeber Brasilien startete meist furios, um sich dann nach einer Führung zurückzuziehen und das Spiel aus einer kompakten Defensive heraus zu steuern. Mit Erfolg: Die Seleçao gewann die WM-Generalprobe souverän.

Ein anderer Meister dieser Disziplin ist Italien. Stets im Vorfeld eines Turniers unterschätzt, trumpfen die Azzuri dann auf, wenn es ernst wird. Trainer und Taktikfuchs Cesare Prandelli gehört zu den Meistern seiner Zunft, ihn und seine Mannschaft muss man in Brasilien auf der Rechnung haben, denn er legt großen Wert auf taktische Variabilität im Spiel. Und sein Team kann diese auch umsetzen. Kollektive Spielintelligenz wird neben einer sehr guten Physis der zweite entscheidende Trumpf bei dieser WM. Das Klima und die Kräftesituation auf dem Platz wird eine ständige Neuausrichtung der Spielweise erfordern. Nur wer bereit ist, sich den Bedingungen anzupassen, kann dieses Turnier gewinnen.

Die Chance für laufstarke, motivierte Außenseiter

Doch Taktik wird nicht reichen. Exzellente Konditionswerte in allen Mannschaftsteilen in Verbindung mit einer hohen Motivation, um auch in Phasen der Erschöpfung dagegen halten zu können, sind der Schlüssel. Diese Tatsache sollte vor allem den Außenseitern Mut machen: Die kämpferische, stets motivierte Spielweise gepaart mit der Gewohntheit extremer Bedingungen könnte die Kolumbianer weit bringen. Und der viel zitierte Geheimfavorit Belgien mit seinen jungen, läuferisch und technisch starken Spielern ist ebenfalls für eine Überraschung gut.

Natürlich haben aber auch die Großen des internationalen Fußballs ihre Hausaufgaben gemacht. Der Deutsche Fußball-Bund schickte seine Scouts in alle Welt, um Spielweisen, Stärken und Schwächen der Gegner zu beobachten. Argentinien feilte in der Vorbereitung an der Effizienz seiner hochkarätigen Offensive um Superstar Lionel Messi. Nur Spaniens goldene Generation wirkt derzeit, als verließe sie sich ganz auf ihre alte - aber eben inzwischen auch bekannte - Klasse und Taktik.

Survival of the fittest

Fazit: Das Zusammenspiel von Fitness, Wille und taktischer Vielseitigkeit werden nur wenige Teams beherrschen. Es wird keinen Zufalls-Weltmeister geben. Das stärkste und anpassungsfähigste Team wird diese WM für sich entscheiden. Survival of the fittest - purer Fußball-Darwinismus.