ESC - auf dem Computer ist es das Kürzel für die "Escape"-Taste. "Escape" heißt aussteigen, flüchten - und besser als in diesem Jahr hat dieses Wortspiel auf einen Austragungsort des Eurovision Song Contest (ESC) sicher noch nicht zugetroffen. Der ESC war für kurze Zeit wie eine Flucht aus der Wirklichkeit für das krisengeschüttelte Land. Im Osten der Ukraine herrscht Krieg, tausende Menschen sind dort schon umgekommen. Auch am Samstagabend, kurz vor dem Finale des ESC, waren bei Artilleriebeschüssen vier Zivilisten getötet worden. Das ist Realität in der Ukraine.
Auf der anderen Seite gab es in der vergangenen Woche diese bunte, fröhliche, liebenswürdige und weltoffene ESC-Blase, in der die Realität für ein paar Tage ausgeblendet wurde und Krieg und Elend weit weg waren. Diese Blase wurde von einem riesigen Sicherheitsapparat beschützt. Das Gelände am International Exhibition Center war ein einziger Hochsicherheitstrakt. Alle zehn Meter ein Bewaffneter, die Eingangskontrollen so streng wie am Flughafen.
Weniger pompös
Hinter den Sicherheitsschleusen: Das fröhliche Fest. Ein Musikwettbewerb, dessen Ergebnis in diesem Jahr nicht von Länderfreundschaften und Sympathien geprägt war, sondern von dem, was das Motto "Celebrate Diversity" versprach: Im Finale eine bunte Musikmischung, vorgetragen von größtenteils exzellenten Künstlern. Das weiße wehende Kleid scheint Geschichte zu sein, ebenso wie die dramatische Ballade, vorgetragen mit leidendem Blick und großer Geste. Die Bühnenshows waren insgesamt verhaltener als in den Jahren zuvor - was dem Ereignis jedoch keinen Abbruch tat.
Da trat eine schüchterne belgische Sängerin mit trauriger Stimme gegen eine quirlige Partyband aus Moldawien an, drei Holländerinnen sangen ein perfektes Pop-Terzett, der kroatische Opernsänger sang mit sich selbst im Duett. Fröhliche junge Männer sangen Gute-Laune-Popsongs, die Gastgeber rockten, und aus Italien kam eine radikale gesellschaftskritische Botschaft. Ein weißrussisches Paar wurde frenetisch gefeiert - nun, da war wohl doch etwas Politik im Spiel - und Deutschland ist nicht Letzter geworden.
Der Herzensbrecher
Dass dann auch noch ein eigenwilliger portugiesischer Jazz-Barde mit einer hinreißenden Nummer ganz still und entrückt diesen sonst so von Gigantomanie geprägten Wettbewerb gewinnt, ist ein tolles Zeichen. Salvador Sobral hat alle verzaubert, selbst Zuhörer, die mit zuckersüßen Geigen sonst nicht viel anfangen können. Er hat Hunderttausende zu Tränen gerührt und bewiesen, dass man kein Feuer, Gedröhne und Lichtgeballer braucht, um einen Songwettbewerb zu gewinnen, der von 200 Millionen Fernsehzuschauern verfolgt wird. Und in der Halle schlug dem Mann aus mehr als 9.000 Handys reine Liebe entgegen - die Lightshow lieferte das Publikum mit einem Meer von Handylichtern.
Am Ende, nach einer leicht gekürzten und dennoch spannenden Auszählung, durfte Sobral noch einmal auf die Bühne und nahm seine Schwester Luisa mit, die den Song komponiert hat. Sie sangen den Siegersong zu zweit - eine wunderbare Szene. Mehr Gefühl geht kaum bei so einem Spektakel. Die Botschaft des Portugiesen schließlich: "Wir leben in einer Welt von austauschbarer Musik. Und dieses Ergebnis steht für Menschen, die wirklich etwas zu sagen haben. Lasst uns was ändern und die Musik zurückbringen."
Es besteht nach diesem ESC in Kiew die berechtigte Hoffnung, dass in dem Gesangswettbewerb in Zukunft wieder mehr auf Menschliches, auf echtes Talent, Vielfalt und auch auf Bescheidenheit gesetzt wird. Musikalisch war es ein Schritt in die richtige Richtung. Etwas weniger Größenwahn hat dem diesjährigen Wettbewerb sehr gut getan. Vielleicht wird der ESC 2018 in Lissabon zeigen, was er in diesem Jahr zart angedeutet hat: dass er auch wieder ein Musikfest sein kann, wo es darum geht, wer das beste Lied gesungen hat. Punkt.
Inzwischen kehren alle aus der ESC-Blase zurück in die Realität - Sobral wird viele Platten verkaufen, Levina wird sich weiter Gesang und Studium widmen, die Journalisten kehren heim und die Ukrainer in ihren Alltag zurück.
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