EU beendet kakophonische Türkei-Politik
Die Kritik aus Ankara an der unterstellten Zurückhaltung der EU nach dem - glücklicherweise - gescheiterten Militärputsch war teilweise heftig. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine ihm untergebenen Regierungsvertreter fühlten sich nach den Ereignissen vom 15. Juli von der EU im Stich gelassen. Sie hatten erwartet, dass europäische Spitzenpolitiker in die Türkei eilen, um den Putschversuch vor Ort zu verurteilen und ihre Solidarität mit dem türkischen Volk zu bekunden. Erklärungen in diese Richtung aus der Ferne war ihnen nicht ausreichend. Gebracht hätten solche Hau-Ruck-Besuche jedoch mit Sicherheit nichts als die bloße Zufriedenstellung eines Regimes, das sich seit den denkwürdigen Tagen vor sieben Wochen nahezu täglich von den elementaren Werten moderner Demokratien Europas wie Menschenrechte und Pressefreiheit Schritt für Schritt entfernt.
Martin Schulz hat sich sehr intensiv auf die heikle Mission vorbereitet und seinen Gastgebern reinen Wein eingeschenkt. Es wird keine Abstriche bei den Erwartungen der EU an Ankara geben, damit die Visafreiheit für türkische Staatsbürger wie von der Türkei gefordert, ab Oktober gewährt wird. Es sind nun mal 72 Bedingungen dafür aufgelistet worden, von denen die Lockerung der Anti-Terror-Gesetze als Knackpunkt noch nicht verwirklicht worden ist.
Der türkische Regierungschef Binali Yildirim hat vom türkischen Blickwinkel betrachtet schon Recht mit dem Hinweis darauf, dass gerade unter den Bedingungen des Ausnahmezustands Korrekturen an den Gesetzen zur Abwehr von Terrorismusgefahren nicht möglich sein können. In einer Periode grenzüberschreitender Operationen sowohl auf eigene Faust als auch gemeinsam mit der von den USA angeführten Koalition gegen den „Islamischen Staat“ in Nordsyrien und vieler verheerender Terroranschläge in der Türkei, kann sich keine Regierung und kein Staatschef dem Vorwurf von Schwäche aussetzen. Deshalb werden die Forderungen EU-Europas auch nicht umgesetzt.
Andererseits aber kann es sich die EU nicht leisten, ohne die Erbringung einer vereinbarten Gegenleistung die Visa-Liberalisierung abzusegnen. Während die Türkei mit mehr als 100 eingesperrten Journalisten eine unrühmliche Spitzenposition weltweit einnimmt, darf niemand in Europa dem Trugschluss unterliegen, Ankara werde seine harte Linie gegenüber Andersdenkenden lockern, wenn die EU ihrerseits nachgibt. Yildirim hat auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Schulz nachdrücklich alle Journalisten, Wissenschaftler oder Intellektuelle im Polizeigewahrsam oder in U-Haft als „logistische Unterstützer“ terroristischer Organisationen bezeichnet. Dazu kann auch der bloße Aufruf zum Frieden und zur Rückkehr zu Verhandlungen mit den Kurden wie vor anderthalb Jahren zählen.
Die Kurzvisite von Martin Schulz war vor allem deshalb wichtig und richtig, weil damit die Kakophonie in der Türkei-Politik der EU beendet worden ist. Der rote Faden EU im Gespräch mit der Türkei ist klar: der Respekt vor den Menschenrechten, vor der Presse- und Meinungsfreiheit und auch vor rechtsstaatlichen Grundprinzipien wie der Unschuldsvermutung werden weiter angemahnt werden. Diese Linie werden die nächsten Besucher aus Brüssel, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn, sicherlich einhalten wie das kürzlich Elmar Brok als Vorsitzender des Außenausschusses des EU-Parlaments auch getan hat.
Öl ins Feuer der Europagegner in der Türkei gießen die kurzsichtigen nationalen Parteipolitiker, die keine Gelegenheit verstreichen lassen, das Ende der Beitrittsverhandlungen zu fordern. Gerade deshalb, weil die Befürworter von Demokratie und Gewaltenteilung darauf hoffen, dass die Kapitel 23 und 24 endlich eröffnet werden können. Hierbei geht es um die Justiz, Grundrechte, Freiheit und Sicherheit. Darüber muss mit der Türkei weiter verhandelt werden. Wenn mit Ankara nicht mehr mit dem Ziel der Fortsetzung ihrer Heranführung an die EU und an deren Werte gesprochen wird, stellt sich die EU selbst ins Abseits der Weltpolitik in einer sehr fragilen Region. Das Scheitern einer europäischen Türkei-Strategie kann nur unbelehrbaren Nationalisten in Europa ebenso wie in der Türkei in die Hände spielen.
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