EU ausgezeichnet
12. Oktober 2012Wen hat das Nobelpreis-Komitee eigentlich angerufen, um die Preisverleihung mitzuteilen? Die EU-Kommission, den Ratspräsidenten Herman van Rompuy oder den Präsidenten des Europäischen Parlaments? Eine einheitliche Telefonnummer hat Europa immer noch nicht. Das verstehen viele Politiker außerhalb Europas nicht, aber die Vielfalt ist auch eine der Stärken, die jetzt ausgezeichnet wurden. Die Europäische Union ist weltweit ohne Beispiel.
Der supranationale Staatenverband, in dem souveräne Nationalstaaten Kompetenzen vergemeinschaften, ist eine einmalige Konstruktion. Einmalig ist auch das Europäische Parlament, in dem die Abgeordneten aller 27 Mitgliedsstaaten an der Gesetzgebung fast gleichberechtigt mitwirken. In Europa herrscht Niederlassungsfreiheit, grenzenloses Reisen und es gibt einen Binnenmarkt, der Unternehmen riesige Märkte und Chancen eröffnet. Den Ton geben allerdings immer noch die nationalen Regierungen im Rat der Europäischen Union an, wo es einen ständigen Konflikt um nationale und europäische Interessen gibt.
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. Wer miteinander handelt und Geschäfte macht, der schießt nicht aufeinander. Diese Binsenweisheit der internationalen Politik war in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts der Grundstein, auf dem die Gründungsväter und Mütter die Montanunion und später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründeten. Aus den Katastrophen der Weltkriege zogen die Europäer - zunächst nur im westlichen Teil des Kontinents - die richtigen Schlüsse. Das meint auch der renommierte Politikwissenschaftler und Europakenner Professor Werner Weidenfeld in seinem "Europa-Handbuch": "Betrachtet man ihre jahrhundertlange Vorgesichte, so kann diese historische Leistung gar nicht hoch genug bewertet werden. Natürlich wäre sie ohne die geschichtliche Sondersituation des Niedergangs der Europäischen Staaten im Zweiten Weltkrieg und ihrer unmittelbar danach entstandenen Frontstellung zur Sowjetunion nur schwer vorstellbar gewesen."
Die Europäische Union hat heute 27 Mitgliedsstaaten, acht weitere sollen aufgenommen werden (Kroatien, Montenegro, Albanien, Serbien, Kosovo, Mazedonien, Island und die Türkei). In ihrer Geschichte haben die Europäer eine enorme Integrationsleistung erbracht. Nach dem Start mit sechs Staaten in West- und Südeuropa umfasst die EU heute fast alle europäischen Staaten. Es wurden sowohl ehemalige Militärdiktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland als auch ehemals kommunistisch regierte Staaten in Mittel- und Osteuropa integriert. Das laufende Projekt ist die Aufnahme des fragilen westlichen Balkan.
Die größte Leistung ist aber sicherlich die Einbindung des ehemaligen Kriegsgegners Deutschland in Europa. Wer hätte für möglich gehalten, dass sich Deutschland auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges zu einem der heute wichtigsten Staaten der Europäischen Union entwickelt? In der aktuellen Schuldenkrise hat Deutschland wegen seiner wirtschaftlichen Potenz sogar die Führungsrolle übernehmen müssen.
Zum Zeitpunkt der Preisverleihung befindet sich die Europäische Union mit der Finanz- und Staatsschuldenkrise in einer der schwersten Krise ihrer Geschichte, so der EU-Kommissionspräsident Jose Barroso. Doch die Krise ist ständiger Begleiter auf dem Weg der Europäer gewesen. Bislang ist die EU aber immer wieder gestärkt aus den Krisen hervorgegangen.
Kritiker werfen der Europäischen Union oft vor, sie sei zu bürokratisch, zu undemokratisch, ein gesichtloses Monstrum. Richtig ist, dass die Entscheidungsprozesse verzwickt und manchmal undurchsichtig sind. Meistens aber kommen Gesetze zustande, die die Integration befördern. Wer nicht zufrieden ist, kann gegen Entscheidungen der Europäischen Union vor einem ordentlichen Gericht klagen. Auch der Europäische Gerichtshof ist in dieser Form eine einmalige Institution in der Welt.
Dieses Jahrzehnte lange Streben der Europäischen Union würdigt jetzt das Nobelkomitee. Aber wer sind eigentlich die Preisträger? Die vier Präsidenten der EU-Institutionen, Rat, Parlament, Kommission, Euro-Gruppe? Oder sind nicht alle Europäer, alle Bürger der Europäischen Union ein bisschen Preisträger, denn schließlich haben sie die Integration, die Reformschritte, die Erweiterung und auch die Kosten mitgetragen. Viele Errungenschaften, von denen unsere Großväter nicht zu träumen wagten, werden heute als selbstverständlich hingenommen. Europa ist eben die Normalität. Europa lebt, trotz aller Unterschiede, eine Einheit in Vielfalt. Heute sind wir alle Europäer.