Facebook, Brecht und 15 Minuten Ruhm
Mord ist ein Kapitalverbrechen - keine Frage. Ob ein Mord dadurch noch schlimmer wird, dass er über Facebook live verbreitet wird? Wohl kaum, auch wenn die öffentliche Aufregung darüber anderes vermuten lässt. Aber es sagt etwas - und nichts Gutes - über unsere Gesellschaft aus, dass die Inhalte im Ekelnetz überhaupt ihr Publikum finden und so als mieses Beispiel für miese Nachahmer dienen.
Facebook löschte die Videos, nachdem schon Hunderttausende sie gesehen hatten. Und Facebook-Chef Mark Zuckerberg gab zu: "Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns."
Bertolt Brechts Radiotheorie
Angefangen hat es - ausgerechnet - mit Bertolt Brecht in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Der Dichter und Dramatiker war begeistert vom damals neuen Medium Radio und formulierte in mehreren Aufsätzen seine Radiotheorie. Anders als zuvor Zeitungen und Bücher sollte der Rundfunk den Austausch von Ideen und Gedanken zur Zweibahnstraße machen. Brecht schrieb: "Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen."
Die Zeiten waren aber damals nicht so, dass Machthaber in Deutschland und anderswo auch nur das geringste Interesse daran gehabt hätten, den "Zuhörer sprechen zu machen".
Kaum 80 Jahre später aber machten sich Konzerne wie Facebook daran, Brechts Vorstellung vom "großartigsten Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens" auf der Basis eines "ungeheuren Kanalsystems", des Internets nämlich, zur Wirklichkeit für alle werden zu lassen. Und sie gaben so dem Künstler Andy Warhol und dem Medienphilosophen Marshall McLuhan recht, die prophezeit hatten, jeder werde künftig die Chance haben, für zumindest 15 Minuten berühmt sein.
Hetze und Ekliges im neuen demokratischen Zeitalter
Schon in den Jahren zuvor gab es Diskussionsforen und Weblogs, in denen jeder mit wenigen Mausklicks zum eigenen Herausgeber für ein potentiell weltweites Publikum werden konnte. Die Netzbürger der frühen Jahre sahen mit dem, was sie "Web 2.0" nannten, ein neues demokratisches Zeitalter heraufdämmern.
Seither aber hat das Medium auf dem Weg zur Netzdemokratie eine unerwartete Ausfahrt genommen: hin zu Populismus, zum Hetz- und Ekelmedium.
Nun hat es Hetzschriften ebenso schon vor dem Netz gegeben wie Splatter-Videos, also solche, auf denen echte oder inszenierte Gewalttaten zu sehen waren. Das Netz hat die Verbreitung solcher Inhalte nur einfacher gemacht - und in den vergangenen Jahren sind diese Inhalte zwangsläufig dort angekommen, wo sie die meisten Zuschauer und Leser finden: auf den kinderleicht zu bedienenden Seiten von Facebook & Co.
Aufregen über das Unabänderliche?
Es hilft nichts, sich zu wundern, was aus den hohen Ideen der Vordenker geworden ist. Es hilft auch nichts, sich über Mörder zu erregen, die ihre fünfzehn Minuten Ruhm durch eine Live-Übertragung ihrer Tat via Facebook erreichen. Es hilft schließlich nichts, sich über Firmen aufzuregen, die mit der Popularität auch solcher unterirdischen Taten Werbegeld verdienen. Die Menschen hinter Facebook & Co. haben in ihrer Begeisterung für das neue Medium Plattformen geschaffen, die strukturell, quantitativ und qualitativ kaum beherrschbar sind - was die Visionäre nicht hatten ahnen können oder wollen.
Es hilft nur, im Einzelfall die Informationen, die auf diese Weise bekannt werden, zur effektiven Bekämpfung von Verbrechen und Vergehen zu nutzen. Und ganz generell die Erfahrungen, die wir jetzt mit dem Ekelnetz machen, zu nutzen, um die weitere Entwicklung der Informationsgesellschaft besser, bewusster zu steuern. Verbote, Kontrollen und Sperren sind dabei nur ein Weg - und nicht der beste. Denn auch Morde sind seit jeher verboten, und doch gibt es sie.
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