Hinschmeißen gilt nicht, NATO!
Ein paar schockierende Details sind inzwischen über die Eroberung der Stadt Kundus durch die Taliban bekannt geworden. Unter anderem der Grund für das eklatante Versagen der afghanischen Truppen und ihren kampflosen Rückzug: Alle Kommandeure, bis hin zum Polizeichef und zum Gouverneur waren just an diesem Tag auswärts unterwegs. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Regierung Ghani hat es ein Jahr nach Amtsantritt nicht geschafft, einen Verteidigungsminister zu benennen. Sie ist offenbar genauso wenig imstande, Disziplin in der Armeeführung durchzusetzen.
Die Afghanen stimmen mit den Füßen ab
Selbst wenn afghanische Soldaten bereit sind, gegen die Taliban und andere Dschihadisten zu kämpfen - sie brauchen Offiziere, die sie anführen. Doch die Regierung in Kabul versinkt in einem Sumpf aus Korruption, Rivalitäten und Unfähigkeit. Und die Sicherheitslage wird von Monat zu Monat schlechter, davon zeugen auch die Tausenden Afghanen, die in diesem Jahr die Flucht nach Europa angetreten haben. Sie haben die Hoffnung aufgegeben, dass in ihrem Land in absehbarer Zukunft Ruhe einkehren wird. Unter Tränen erzählte einer dieser Flüchtlinge unterwegs auf der Balkanroute im Interview, wie sein Vater einem Selbstmordanschlag am Flughafen von Kabul zum Opfer gefallen war. "Ich kann es nicht mehr ertragen", sagte der Mann, "nach 25 Jahren Krieg wollen wir endlich in Frieden leben."
Diese grundlegende Forderung der Afghanen an ihre Regierung können die Politiker in Kabul nicht erfüllen. Und auch die NATO, die doch versprochen hatte, den Aufbau staatlicher Strukturen so lange abzusichern, bis die Afghanen endlich ihr eigenes Land wieder aufbauen können, hat versagt. Alle Schulungen, gemeinsamen Manöver, Kurse und Investitionen waren umsonst, wenn es am Ende keine handlungsfähigen Sicherheitskräfte gibt. Nach wie vor stinkt in Afghanistan der Fisch vom Kopf. Es gibt wenig Loyalität mit dem Staat und es gilt das alte Wort von der ewigen Käuflichkeit der Amtsinhaber.
Weglaufen gilt nicht
Natürlich: Die NATO ist eine Militärorganisation und der Aufbau von Staaten gehört nicht zu ihren Aufgaben. Leider wird sie dafür aber gebraucht. Sie kann sich jetzt nicht entziehen. Von deutscher Seite kam nun die Klage, zu viele Entwicklungs- und Nichtregierungsorganisationen hätten sich aus Afghanistan zurückgezogen. Wer aber soll dort sein Leben aufs Spiel setzen, wenn kein politischer Wille erkennbar ist, das Land - auch durch Militärpräsenz - weiter auf Kurs zu halten? Deutlich ist jedenfalls, dass der 2014 verordnete Abzug zu früh kam, und die schönen Reden von der Selbstverantwortung der Afghanen Augenwischerei waren.
Die Sache steht und fällt jetzt mit der Entscheidung von Barack Obama. Er wollte der Präsident sein, der amerikanische Soldaten aus dem ungeliebten Einsatz nach Hause bringt. Wenn er darauf beharrt, wird das ein ebenso großer Fehler sein wie der vorzeitige Rückzug von George W. Bush aus dem Irak. Andere Partner wie Deutschland sind bereit, ihre Truppen als stabilisierende Kraft weiter im Land zu lassen. Das ist jedoch nur möglich, wenn die amerikanische Militärmacht ihnen den Rücken frei hält.
Rund 500 Milliarden Dollar Hilfsgelder sollen nach Afghanistan geflossen sein - vorzuweisen ist dafür schockierend wenig. Über 3000 Soldaten der Alliierten starben in dem Einsatz - aber die Geländegewinne, für die sie kämpften, sind schnell wieder verloren. Das zeigt auch der Fall Kundus. Über die Ursachen des ganzen afghanischen Debakels sind viele kluge Analysen geschrieben worden. Die Schlussfolgerung muss jetzt heissen: Wir sind dem Land verpflichtet, wir müssen es zu Ende bringen. Und selbst wenn es noch einmal doppelt so lange dauert: Hinwerfen gilt nicht, auch wenn es absolut keine Erfolgsgarantie gibt. Die NATO muss "Nation Building" möglich machen, und dabei einen ganz langen Atem haben.
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