Historischer EU-Türkei-Gipfel?
30. November 2015Auf den ersten Blick wirkt der EU-Türkei-Gipfel wie ein Riesenerfolg für beide Seiten. Ein Fortschritt. Die EU hat sich bereit erklärt, der Türkei finanziell unter die Arme zu greifen, nachdem das Land jahrelang allein mit der Flüchtlingskrise zurechtkommen musste.
Gleichzeitig haben beide Seiten beschlossen, das Thema Flüchtlinge gemeinsam anzugehen und außerdem den Dialog in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Politik zu vertiefen.
Mehr noch: Beide Seiten haben vereinbart, Mitte Dezember ein neues Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Wenn alles nach Plan läuft, werden die Visa-Bedingungen für türkische Bürger, die in den Schengen-Raum einreisen möchten, im Oktober 2016 erleichtert. Zu schön, um wahr zu sein? Wahrscheinlich schon.
Denn die europäischen Staats- und Regierungschefs haben eine klare Botschaft formuliert: Die Visa-Erleichterungen hängen mit dem Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge zusammen.
Nichts als Versprechen?
Um die türkische Öffentlichkeit für das Flüchtlingsthema zu gewinnen, wird eine geradezu wunderbare Perspektive präsentiert: visafreies Reisen nach Europa und die Wiederbelebung der EU-Beitrittsverhandlungen. Jeder Türke, der schon nach Europa gereist ist oder Verwandte in einem EU-Staat hat, wird sich über diese Entwicklung freuen.
Doch dies ist nur eine Perspektive, keine Garantie. Zuerst muss sich Europa sicher sein, dass der Plan funktioniert und die syrischen Flüchtlinge tatsächlich in der Türkei bleiben. Der französische Präsident Francois Hollande bemerkte, dass Terroristen die Flüchtlingsströme dazu genutzt hätten, um nach Europa zu kommen: Das erklärt, wieso das Thema für die Europäer so wichtig ist und dringend gelöst werden muss.
Das positive Ergebnis des Pakts zwischen der EU und der Türkei ist, dass Ankara endlich systematischer mit der Flüchtlingskrise umgehen wird. Zurzeit leben nur etwa 14 Prozent der 2,2 Millionen Flüchtlinge in der Türkei in Camps. Die anderen sind im ganzen Land verstreut. Obwohl die meisten registriert wurden, sind sie noch sehr weit entfernt von einer Integration in die türkische Gesellschaft.
Durch den gemeinsamen Aktionsplan akzeptiert die Türkei gewissermaßen, dass die syrischen Flüchtlinge ein Teil ihrer Gesellschaft werden - und im Land bleiben. Andererseits lässt Europa nichts unversucht, damit das eher eine türkische Realität wird als eine europäische.
EU-Mitgliedschaft nicht in Sicht
Als die Türkei vor 16 Jahren den EU-Kandidatenstatus erhielt, wurde auch deutlich gemacht, dass der Prozess "ergebnisoffen" ist. Es gibt also keine Garantie für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei - selbst bei einem erfolgreichen Abschluss aller Kapitel der Verhandlungen.
Vor dem "historischen" Gipfeltreffen am Wochenende erwähnte Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Aspekt erneut - vielleicht mit weniger Nachdruck als früher. Bei der Pressekonferenz nach dem Gipfel sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dass die EU und die Türkei eine unterschiedliche Sicht auf das Thema Pressefreiheit hätten. Doch diese eher zurückhaltenden Erklärungen sind subtile Hinweise auf die Absichten der EU.
Weil sie nicht offen auf die Demokratiedefizite der Türkei hinweist, verliert die EU an Glaubwürdigkeit - und zeigt, dass sie nicht ernsthaft beabsichtigt, das Land in die Europäische Union zu integrieren. Falls die Absicht ehrlich vorhanden wäre, wieso versucht die EU dann, der Türkei den schwersten Teil der Last aufzubürden? Und warum besteht die EU nicht deutlich und nachdrücklich auf den Werten, auf denen sie aufgebaut ist?
Der Freudentanz über den Erfolg dieses "historischen" Gipfels ist also nichts als eine Illusion, wenn das eigentliche Ziel eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ist. Ist das Ziel aber lediglich ein Eindämmen des Flüchtlingsstroms nach Europa, dann war der Gipfel tatsächlich ein Riesenerfolg.
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