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Instinkt des Mitgefühls

Schuhmann Efim Kommentarbild App PROVISORISCH
Efim Schuhmann
8. Oktober 2015

Mit Swetlana Alexijewitsch hat die Schwedische Akademie eine sehr gute Wahl für den Literaturnobelpreis getroffen, meint Efim Schuhmann. Sie setzt die Tradition der großen russischen Literatur fort.

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Swetlana Alexijewitsch
Bild: picture-alliance/S. Simon

Eine halbe Stunde, bevor die Schwedische Akademie verkündete, dass Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis 2015 erhält, bekam sie einen Anruf von ihrer Literaturagentin aus Köln. Alexijewitsch sagte: "Warte, ich schließe die Tür, es ist sehr laut draußen. Es sind Leute gekommen, sie warten, vielleicht wird die Akademie meinen Namen nennen. So viel Aufmerksamkeit habe ich nicht verdient."

So ist Alexijewitsch. Sie ist bescheiden, keine öffentliche Person, und als Schriftstellerin bleibt sie häufig "hinter den Kulissen". Sie überlässt ihren Helden das Wort. Die Kommentare der Autorin sind minimal. Es ist eine Polyphonie von Stimmen. Alexijewitsch kann auswählen aus stundenlangen Gesprächen, die sie mit Müttern führt, die ihre Söhne in Afghanistan verloren haben, mit Tschernobyl-Kindern, mit Menschen, die sich betrogen und gedemütigt fühlen durch die russischen Reformen der 1990er Jahre.

Es sind gerade diese Geschichten, Monologe und Episoden, die am meisten erschüttern. Sie stehen in den Büchern, die in Dutzende Sprachen übersetzt sind: "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", "Zinkjungen", "Tschernobyl" oder "Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus".

Swetlana Alexijewitsch schreibt auf Russisch, sieht sich selbst aber als weißrussische Schriftstellerin. Heute lebt sie in Weißrussland, obwohl dies für sie nicht einfach ist: Die offiziellen Medien schweigen über sie, ihre Treffen mit Lesern werden behindert und die Opposition ist beleidigt, weil sie auf Russisch und nicht auf Weißrussisch schreibt. Aber sie bleibt dort, wo ihre Helden leben, von denen wir wahrscheinlich nie erfahren hätten, wäre da nicht Alexijewitschs unermüdliche literarische Arbeit.

DW Russische Redaktion Hörfunk Efim Schuhmann
DW-Redakteur Efim SchuhmannBild: DW/A. Galkina

Niemand kann so zuhören wie sie

Die Meisterin der dokumentarischen Prosa setzt die Tradition der großen russischen Literatur fort, die Tradition Dostojewskis und Gogols. Ihr Held ist der "kleine Mann" Russlands, Weißrusslands und der Ukraine, der "irgendwie überlebt und seine Kinder aus dem Albtraum des Alltags herauszieht". Es sind seine Not, sein Leid und seine Hoffnung, über die sie schreibt. Niemand kann so hören und zuhören wie sie. Alexijewitschs Polyphonie, auf die auch die Schwedische Akademie hingewiesen hat, macht die Stimme des Volkes hörbar, bestehend aus Monologen ihrer Landsleute, die weder von der Staatsmacht, den erfolgreicheren Nachbarn noch von den wohlbehüteten Touristen aus dem Westen beachtet werden.

Alexijewitsch schreibt mit Schmerz auch über den "roten Menschen" der Sowjetzeit, vergiftet mit totalitärer Ideologie, mit hasserfülltem Nationalismus, der sich heute wieder der militaristischen Hysterie hingibt. Und sie schreibt darüber, wie in Russland wieder die "dunkelsten und primitivste Kräfte" auf die Bühne treten. Besorgt stellt sie fest, dass sich der "Sowjetmensch" rächt. Und dabei betont sie, ohne das zu rechtfertigen: "Wir alle sind eine Gesellschaft von Opfern." Sie hat sogar mit diesen Menschen aufrichtiges Mitgefühl. Ein deutscher Kritiker hatte einmal von ihrem erstaunlichen Instinkt des Mitgefühls berichtet. Dieser Instinkt ist sehr viel wert.

Schön, dass auch die Schwedische Akademie das verstanden hat. In den vergangenen Jahren gab es selten Literaturnobelpreisträger, die diese Auszeichnung so sehr verdient hätten wie Swetlana Alexijewitsch.

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