Der türkische Staatspräsident Erdogan hatte nie einen Hehl aus seinen Absichten gemacht. Noch im September präsentierte er vor den Vereinten Nationen in New York eine Landkarte: Da war ein breiter Korridor an der syrischen Grenze eingezeichnet, der unter türkischer Kontrolle stand. Vielleicht hätte entschlossenes und gemeinsames Handeln seiner NATO-Partner den Autokraten vom Bosporus da noch von seinem militärischen Abenteuer abhalten können. Es kam bekanntlich anders: US-Präsident Trump räumte den Weg frei und letzte Woche begann die türkische Militär-Operation in Nordsyrien, verbrämt als Anti-Terror-Mission und unter dem zynischen Namen "Friedensquelle".
Was seither geschah: Nach Angaben der WHO haben die türkischen Truppen und die mit ihnen verbündeten dschihadistischen Milizen 200.000 Menschen in Nordsyrien zur Flucht gezwungen. Videos auf sozialen Medien scheinen eine Massenhinrichtung von gefangenen kurdischen Kämpfern und Politikern zu zeigen. Selbst für US-Verteidigungsminister Mark Esper "scheinen" das Kriegsverbrechen zu sein. Die Kurden suchen Hilfe vor dem türkischen Angriff bei Assad und seinen russischen Unterstützern. Und: Hunderte, vielleicht Tausende gefangene IS-Anhänger entkommen bei einer Massenflucht aus einem kurdischen Lager.
Der IS profitiert
Die türkische "Anti-Terror-Operation" gegen die kurdischen Milizen in Nordsyrien wirft den eigentlichen Anti-Terror Kampf, den Kampf gegen den sogenannten "Islamischen Staat", empfindlich zurück. Der IS als Terrorkalifat mit eigenem Territorium war zwar niedergerungen worden. Unter empfindlichen Opfern von eben jenen kurdischen Kämpfern, die sich jetzt türkischer Angriffe erwehren müssen. Aber als vor gerade einmal einem halben Jahr seine letzte Bastion in Baghouz fiel, lebte der IS als Terrororganisation weiter. Versteckt mit Kämpfern in Syrien und im Irak, mit Ablegern von Afghanistan bis Nigeria.
Im Streit um die Gefährlichkeit eines territorial besiegten IS war im letzten Dezember der frühere US-Verteidigungsminister James Mattis aus Protest zurück getreten. Damals hatte Donald Trump erstmals erklärt, die US-Truppen aus Syrien abziehen zu wollen. Mattis war überzeugt, dass ein US-Abzug den Boden für eine Rückkehr des IS bereiten würde. Auch Brett McGurk hatte da seinen Rücktritt eingereicht; er war der Sonderbotschafter Trumps für den Kampf gegen den IS.
Überleben im Untergrund
Der IS weiß auch aus seiner Zeit im Irak: In Zeiten großen Drucks genügt es, sich weg zu ducken, um zu überleben. Oft genug sorgen dann äußere Kräfte für ein Umfeld, in dem sie wieder florieren können. In Syrien tut dies jetzt der türkische Einmarsch und das damit einhergehende Chaos: Bei einem Bombenangriff auf ein kurdisches Gefängnis in Qamischli konnten fünf IS-Kämpfer entkommen. Die von den USA geplante Verlegung von 60 Hochrisiko-Dschihadisten in ein irakisches Gefängnis ist laut New York Times gescheitert. Und mindestens zweimal hat sich der IS seit Kriegsbeginn selbst mit Attentaten zurück gemeldet.
Zehntausende IS-Anhänger
Insgesamt sitzen in kurdischen Gefängnissen rund 12.000 IS-Kämpfer. In Flüchtlingslagern werden bislang noch zehntausende IS-Anhänger bewacht, meist Frauen und Kinder. Europa hat bei der Aufgabe versagt, seine Staatsbürger aus Nordsyrien zurückzuholen und vor Gericht zu stellen, auch Deutschland. Trotz ständig wiederholter Aufforderungen durch die kurdische Selbstverwaltung, unterstützt auch vom Weißen Haus. Obwohl die Gefahr eines türkischen Einmarsches immer über den Kurdengebieten Nordsyriens schwebte, ließ man die Dinge lieber laufen. Jetzt muss man damit rechnen, dass hochgefährliche Menschen frei kommen und sich auf eigene Faust und unerkannt nach Deutschland auf den Weg machen. Mit allen erdenklichen Folgen.
Europa hat sich von Erdogan erpressen lassen durch seine Drohung, dreieinhalb Millionen syrische Flüchtlinge weiter ziehen zu lassen. Die Bedrohung durch zehntausende möglicherweise freikommende IS-Anhänger hat es ignoriert.