Zerstörte Erinnerungen, zerstörte Identitäten
9. März 2015Erst Ninive, dann Nimrud, jetzt al-Hadra. Schwerste Angriffe auf das assyrische Erbe, die steinernen Zeugen sumerischer Hochkultur aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus. In Ninive zertrümmerten die Terroristen des "Islamischen Staats" kunstvoll gehauene Figuren. In Nimrud und al-Hadra setzten die Terroristen dem kulturellen Erbe mit Bulldozern und Dynamit zu. Und wenn auch noch nicht bekannt ist, was sie im einzelnen zerstörten, dürfte bereits klar sein, dass sie auch dort ihrem vornehmsten Kult huldigten: dem der Zerstörung, Verwüstung, Vernichtung. Und einmal mehr präsentieren die Terroristen die gleiche faulige Begründung: Sie bekämpften den "Götzendienst". Tatsächlich zerstört dieser Kampf vor allem eines: die kulturelle Identität der Iraker.
Katastrophale Gegenwart
Das brachiale Vorgehen setzt die katastrophalen Erfahrungen fort, die die Iraker in der jüngeren und jüngsten Gegenwart machen mussten. Millionen wurden unter der Herrschaft Saddam Husseins ermordet. Der Diktator zwang seinem Volk zwei Kriege auf. Es folgten das Embargo, dann die US-Invasion des Jahres 2003. Diese stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, aus dem dann, im Norden des Landes, das Schreckenskalifat des IS hervorgegangen ist.
So wurden nicht nur zahllose Leben ausgelöscht. Auch Erinnerungen gingen zu Bruch, und in ihrer Folge Identitäten. Wenn Teile der sunnitischen Iraker sich für den IS begeistern, dann auch weil in der überbordenden, gewaltstrotzenden Gegenwart weder Vergangenheit noch Zukunft zählt. Zudem lässt der Druck der Verhältnisse für viele nur die eine, naheliegende Option zu: den Islam. Dieser nimmt unter der nicht abreißenden Gewalt oft verzerrte Formen an, wird bösartig, eifersüchtig, intolerant.
Drehscheibe der Kulturen
Um zu verstehen, was der Extremismus dem Irak antut, muss man einen Blick auf den Globus werfen. Wie kein anderes Land des Nahen Ostens liegt es im Schnittpunkt unterschiedlichster Regionen und Kulturen. Im Westen weist es in Richtung Mittelmeer, mit dessen Kultur es seit jeher verbunden ist. Im Osten grenzt es an den Iran, der wiederum uralte Kontakte in das nördliche Asien, nach Afghanistan, Tadschikistan bis nach China pflegt. Im Norden stößt es an die Türkei. Und im Süden schließlich liegen die arabische Halbinsel und der persische Golf - die große Wasserstraße, die den Irak sowohl mit Indien als auch dem Horn von Afrika verbindet.
Die Vielfalt dieser Verbindungen und der aus ihr hervorgegangene kulturelle Reichtum stehen im Zentrum der jüngeren Deutungskämpfe um die nationale Identität des Landes. Wie vielfältig der moderne Irak ist und sein will, verrät bereits seine offizielle Staatsbezeichnung: "Dschumhuriyya al-Iraq", "Republik Irak". Eine weitergehende Definition hat sich das Land nicht gegeben. Will sagen: Der Irak ist die Heimat aller seiner Bürger, der muslimischen ebenso wie der nicht-muslimischen. Und selbstverständlich bewahrt die Republik Irak auch die Erinnerung an alle jene, die auf ihrem heutigen Gebiet jemals gelebt haben - und zwar auch noch, wenn deren Kultur vor Jahrtausenden untergegangen ist.
Doch gerade die assyrische Kultur hat sich zumindest sprachlich in die Gegenwart gerettet: In der "Assyrischen Kirche des Ostens", der Glaubensgemeinschaft der katholischen Christen, lebt die Erinnerung an die antiken Vorfahren der Iraker bis heute fort - und erinnert sie Tag für Tag daran, dass der Islam nur eines von vielen Steinchen zum Mosaik der nationalen Identität beisteuert. Darum hat der IS dem assyrischem Erbe nun den Kampf angesagt – wie überhaupt allen nicht-islamischen Kulturen. Die sind ihm so verhasst, dass er ihnen nicht einmal ein Recht auf Vergangenheit zugestehen will.
Raub der Zukunft
Der Angriff des IS auf die Vergangenheit ist darum durchaus konsequent. Denn mit ihr attackieren die Terroristen das Wertvollste, was Kultur den Menschen zu bieten hat: die Idee, dass es zu allen Lebensformen auch Alternativen gibt, die jeweiligen Verhältnisse, wie immer sie auch beschaffen sein mögen, nicht die einzig möglichen Daseinsformen sind.
Diesen Gedanken bargen auch die Statuen von Ninive und die Akropolis von Nimrud. Sie waren die Stein gewordene Erinnerung an die Vielfalt menschlichen Lebens, die Freiheit und Fähigkeit zur Wahl, die dem Menschen gegeben ist.
Kultur schafft Distanz. Eben darum ist sie für die Kulturfeinde des IS eine ungeheure Provokation. Die Welt verliert einige ihrer bedeutendsten Kulturschätze. Die Iraker verlieren einen Teil ihrer Identität und damit ihrer Zukunft.