Kommentar: (K)ein Tor mit Folgen
20. Oktober 2013Manchmal sind es Sekunden, die darüber entscheiden, ob man zum Helden wird. Das Problem dabei: Man hat keine Zeit abzuwägen. Man muss sich schnell entscheiden. Und je mehr Zeit verstreicht, desto schwerer wird es, zurück zu rudern. So wird es Stefan Kießling vermutlich gehen. Ihm stand die Enttäuschung nach der klar vergebenen Chance nicht nur in das Gesicht geschrieben, er drückte sie auch äußerst gestenreich aus: Hände vor das Gesicht geschlagen, abgedreht, Situation abgehakt. Typische Körpersprache eines Vollblutstürmers nach einem Fehlschuss. Mimik und Gestik sprechen dann Bände. Und man darf annehmen, dass der Torschützenkönig der letzten Saison ganz genau weiß, wann er getroffen hat und wann nicht.
Dass der Ball plötzlich doch im Tor landete, muss für Kießling eine wahnsinnige Überraschung gewesen sein. Vielleicht sogar unerklärlich. Doch dem ebenfalls verwirrten Schiedsrichter Felix Brych gestand er dies nicht, als der ihn aufforderte, sich zu äußern. Er habe nichts gesehen, das zeigten ja schließlich auch die Fernsehbilder, gab Kießling noch Stunden später zu Protokoll. Sicherlich war er mit der Situation überfordert. Und nun kann er nicht mehr zurück. Nach dem Motto "Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen" zieht sich der Spieler damit ziemlich feige aus der Affäre. Kießling wird nun mit dem Unmut der gegnerischen Fans rechnen müssen. Es hätte auch ganz anders kommen können: Eine mutige Aussage von ihm, das Tor wäre nicht gegeben worden und Kießling hätte den Respekt von Fußball-Deutschland verdient gehabt. Wer weiß, wozu das noch geführt hätte in Sachen Nationalmannschaft.
Verständnis für Brych!
Für den ambitionierten FIFA-Schiedsrichter Felix Brych könnte diese Situation sogar ein Karriereknick sein. Ein gegebenes Phantom-Tor liest sich in keiner Schiedsrichter-Vita gut. Aber Brych, der wie die anderen deutschen Schiedsrichter für technische Hilfsmittel wie die Torlinien-Technologie oder den Videobeweis ist, kann man keinen großen Vorwurf machen. Er räumte zwar leise Zweifel ein. Und selbstverständlich hätte er vor dem Wiederanpfiff das Netz prüfen können. Doch weder die Reaktion der Hoffenheimer noch die seiner Assistenten an den Linien waren so eindeutig, dass er ein irreguläres Tor für möglich hielt. Der Ball lag schließlich im Gegensatz zu dem Bundesliga-Phantomtor von Thomas Helmer (23. April 1994) im Tor. Wie sollte er sonst dahin gekommen sein? Kießlings Aussage half jedenfalls offenbar kein Stück weiter.
Brychs "Vorgänger", Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers, hat sich von seiner Fehlentscheidung nie wirklich erholt. Er erhielt sogar Morddrohungen und wird bis heute darauf angesprochen. Felix Brych wird hinterfragt werden, auch bei der Entscheidung, ihn bei der WM in Brasilien pfeifen zu lassen. Immerhin: Dort wird die Torlinien-Technologie eingesetzt, die übrigens erkannt hätte, dass der Ball die Torlinie niemals überschritten hatte.
Ob es ein Wiederholungsspiel geben wird, ob diese Fehlentscheidung einen weiteren Ausschlag zur Einführung der Torlinien-Technologie geben wird - all das ist bis heute noch offen. Sicher ist, dass Kießling, der sich nun beschwert, dass die Zuschauer ihn anschließend übel beleidigt hätten, eine große Chance vertan hat: Er hätte mit einer ehrlichen Aussage wie "Das war nie und nimmer ein Tor, ich habe doch das Außennetz getroffen, wie soll der Ball dann reingehen?" vermutlich einen Fair-Play-Preis gewonnen. Wie so etwas geht, hat Miroslav Klose - ebenfalls treffsicherer Stürmer, der so manch einem irregulären Treffer aber offen und vor allem sofort die Gültigkeit absprach - mehrfach vorgemacht. So bleibt nach all den Debatten um die verweigerte Rückkehr in die Nationalmannschaft ein Makel an dem bisher als nett und sympathisch geltenden Kießling hängen.