Politische Skandale folgen einer bestimmten Logik. Sie ähneln einem Stein, der auf die spiegelglatte Oberfläche eines Sees trifft. Wenn der Stein ins Wasser plumpst, bildet sich erst eine kleine Fontäne. Dann tauchen wie aus dem Nichts kreisförmig Wellen auf, in immer größerem Radius breiten sie sich aus. Der Stein selbst ist längst versunken, wenn er seine größte Wirkung entfaltet.
Die Fontäne des ersten Aufschlags war vor ein paar Wochen im Bundesland Bremen zu besichtigen. Die Leiterin der dortigen Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - eine mit dem Kürzel "BAMF" belegte Mammutbehörde - flog auf, weil sie offenbar jahrelang das Recht gebeugt hatte. Im Zusammenspiel mit Rechtsanwälten und anderen Helfern hatten hunderte Menschen durch ihre Unterschrift ungerechtfertigt Asyl in Deutschland bekommen. Das ist der Kern der Vorwürfe. Doch bei dieser lokalen Geschichte bleibt es nicht.
Flüchtlingspolitik unter Beschuss
Mit jedem weiteren Kreis, den der Skandal zog, wuchs seine Dimension. Bald gerieten andere BAMF-Außenstellen ins Visier – sie werden nun untersucht; tausende Asylbescheide in ganz Deutschland kommen auf den Prüfstand. Das BAMF untersteht dem Berliner Innenministerium. Wie immer geht es bei der Aufarbeitung politischen Versagens um die Frage: Wer wusste wann was? Wer hatte die notwenigen Informationen, zog daraus aber nicht die politisch oder personell gebotenen Konsequenzen? Auch im Innenministerium muss diese Kardinalfrage beantwortet werden. Womit die Schockwellen endgültig Berlin erreicht hatten.
Nun trifft die nächste Welle Angela Merkel direkt: Interne Dokumente zeigen, dass der damalige BAMF-Chef Frank-Jürgen Weise die Kanzlerin persönlich über die schwierige Lage seiner Behörde informiert hatte. Weise geht aber noch weiter: Er erhebt schwere Vorwürfe gegen das Innenministerium; dort sei bekannt gewesen, wie mangelhaft das BAMF aufgestellt und ausgestattet sei. Mit der Bearbeitung von rund einer Million Asylanträgen innerhalb weniger Monate sei die Behörde heillos überfordert gewesen.
Weise ist offenbar sauer, weil er als Feuerwehrmann der Kanzlerin im Herbst 2015 eingesprungen war, um das BAMF zu reformieren. Die Kanzlerin stand mit ihrer hochumstrittenen Politik der Grenzöffnung mächtig unter Druck. Täglich kamen tausende Migranten ins Land. Weise hat vieles erreicht, vor allem hat er die Asylverfahren erheblich beschleunigt. Nun wird ihm vorgehalten, dass die amtsinterne Parole "Quantität vor Qualität" neue Probleme erzeugt hätte. So etwas verbittert.
Sein Hauptzorn trifft offenbar den ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière; ihn hatte Merkel überraschend nicht mehr ins neue Kabinett berufen, seine politische Karriere ist definitiv zu Ende. Dagegen bleiben andere Top-Funktionäre im engsten Umfeld der Kanzlerin von Weises Anwürfen ausgespart. Das sieht fast schon wie ein geplanter Ausfallschritt aus: Merkel wird zwar vom Skandal erreicht, aber eben nur ein bisschen.
Wird der Skandal für Merkel gefährlich?
In Berlin wird derzeit gestritten, ob der Bundestag einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen soll, um aufzuklären, was da in Bremen und anderen BAMF-Büros schief lief. Die Opposition hätte genügend Stimmen, um eine solche Untersuchung zu starten. Aber vor allem die Grünen zieren sich, weil sie befürchten, dass ein solcher Ausschuss von den Rechtsaußen der AfD instrumentalisiert werden könnte zu einer Generalabrechnung mit Merkels Flüchtlingspolitik. Nachdem Weise nun das Kanzleramt in die Reichweite des BAMF-Skandals bugsiert hat, wird es immer wahrscheinlicher, dass der Bundestag ernst macht mit einer Untersuchung.
Um das Bild vom Stein im Wasser noch einmal zu bemühen: Wenn die Wellen das Ufer erreichen, sind sie so schwach, dass sie nichts mehr anrichten können. Viele verebben vorher schon. Übertragen auf den politischen Skandal: Angela Merkel wird nicht gefährlich werden, was ihren ehemaligen Top-Beamten im Nachhinein derart ärgert.
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