Die Schlacht um Mossul führt in die Tiefe der Zeiten. Sein Land könne sich aus den Kämpfen nicht heraushalten, erklärte kürzlich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Er begründete seine Einschätzung mit einem historischen Argument: Die Türkei habe im Vertrag von Lausanne von 1923 - eines jener internationalen Abkommen, durch das Europa und der Nahe Osten nach dem Ersten Weltkrieg neu geordnet wurden - erhebliche Gebietsverluste hinnehmen müssen.Tatsächlich gehörte das Osmanische Reich zu den großen Verlierern des Ersten Weltkriegs. Der Vertrag von Lausanne legte die Grenzen der 1923 als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs entstandenen Türkei fest. Mossul, damals ein Teil des Osmanischen Reichs, wurde dem Irak zugeschlagen.
Das will Präsident Erdogan, mit knapp 100 Jahren Verspätung, offenbar nicht hinnehmen. "Darauf [den auf Grenzen von 1923] zu bestehen, ist das größte Unrecht, das man dem Staat und der Nation antun kann. Wenn sich in der heutigen Welt alles ändert, können wir das Festhalten am Vertrag von 1923 nicht als Erfolg ansehen." Darum, schloss er, müsse sich die Türkei in Mossul engagieren - eine Äußerung sehr zum Unbehagen der irakischen Regierung, die das Angebot eines türkischen Engagements dankend ablehnte.
Zurück ins 17. Jahrhundert
Erdogans historische Exkursionen inspirierten einen Nachbarn, ebenfalls in die Mottenkiste der Geschichte zu greifen. Von dort zogen Teheraner Kreise den Vertrag von Qasr-e Schirin hervor. Dieser ist ein Papier von respektablem Alter: Die Unterzeichnung fällt in das Jahr 1639. Er regelte den Verlauf der Grenzen zwischen dem Persischen und dem Osmanischen Reich - und damit auch jener Territorien, die heute zum Irak gehören. Zugleich sicherte er den Persern zu, die heiligen Schreine der Schiiten auch jenseits der Grenze des Persischen Reiches teils mit in ihre Obhut zu nehmen. Heute ist das ein Freischein für die Iraner, im gesamten Irak mitmischen zu können. An schitischen Schreinen herrscht im Irak kein Mangel.
Historische Exkursionen wie diese zeigen, worum es in Mossul und anderen irakischen Städten geht: um die Neuordnung nicht nur des Iraks, sondern der gesamten Region. Deren Grenzen sollen verschoben werden - unter Berufung auf das historische Unrecht, das dem Nahen Osten während und nach dem Ersten Weltkrieg widerfahren ist. In der Tat waren die von Briten und Franzosen im Sykes-Picot-Abkommen verhandelten Grenzen eine kaltschnäuzig über die Köpfe der Araber ausgehandelte Abmachung, die allein den europäischen, nicht aber den Interessen der Menschen vor Ort entsprach.
Logik der Globalisierung
Anders hingegen der Vertrag von Lausanne. Er regelte den Grenzverlauf der Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs. Dieses gehörte bekanntlich zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs. Entsprechend schmerzhaft war dieses Abkommen für die Osmanen. Daraus nun aber eine Neugliederung der Region ableiten zu wollen, ist abenteuerlich. Denn Grenzverschiebungen hätten ungeheure Spannungen zur Folge. Die Welt ist auf der Grundlage von Nationalstaaten geordnet. Sich auf Prinzipien zu berufen, die auf die Zeit vor ihnen zurückgehen, könnte die Region noch weiter destabilisieren.
Stattdessen kommt es auf etwas anderes an: nämlich auf die Fähigkeit, das Zusammenleben in multiethnischen und multikonfessionellen Staaten zu organisieren. Alles andere widerspräche der Logik der Globalisierung. Das ist, wie sich derzeit auch in Europa zeigt, eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, an der man auch scheitern kann.
Der Irak ist nach 15 Jahren Krieg und Gewalt für diese Aufgabe denkbar schlecht gerüstet. Umso größer ist die Notwendigkeit, - das sehen auch eine ganze Reihe arabischer Kommentatoren so - die Spaltung entlang kultureller Fronten hinter sich zu lassen. Das Problem sind nicht die Grenzen. Sondern die religiösen und rassistischen Chauvinismen, die diese in Frage stellen.
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