Mursi soll mehr Versöhnung wagen
7. Dezember 2012Seit Tagen hält auf den Straßen Kairos die sinnlose Gewalt zwischen Anhängern und Gegnern des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi an. Es ist höchste Zeit für einen nüchternen Blick auf die dramatischen Ereignisse, die das größte arabische Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht haben.
Angefangen hat die neuerliche Konfrontation mit Mursis "Verfassungserklärung", mit der er die Gewaltenteilung im Lande faktisch aufgehoben hat. Mit diesen Ermächtigungsdekreten wollte er der Justiz versagen, seine Entscheidungen zu überprüfen, aber er wollte auch die verfassungsgebende Versammlung von juristischer Kontrolle ausschließen.
Dafür hatte Mursi gute, sachliche Gründe. Schließlich gilt das Verfassungsgericht als die letzte Bastion des alten Regimes. Und eben dieses Gericht ließ sich von den inzwischen entmachteten Militärs mehrfach instrumentalisieren. Im Juni hat es die erste wirklich freie und demokratische Wahl des Parlaments für nichtig erklärt.
Mursi musste damit rechnen, dass das Verfassungsgericht die von Islamisten dominierte verfassungsgebende Versammlung ebenfalls für auflöst. Doch damit wäre der ganze post-revolutionäre Transformationsprozess wieder auf Null gestellt worden. Eine lange Periode des politischen Stillstandes und der Instabilität wäre die verheerende Folge für Ägypten.
Mursi ist kein "Pharao"
Dennoch: Mursi hat instinktlos agiert, und darum trägt er die Hauptverantwortung für die Eskalation der Gewalt und die extreme Polarisierung im Land. Er hätte den Dialog mit den Revolutionären vom Tahrir-Platz suchen sollen, denn ihnen verdankt er letztlich seine Wahl. Stattdessen verlieh er sich selbst diktatorische Vollmachten und setzte alles daran, den verfassungsgebenden Prozess ohne breites Konsensverfahren durchzuboxen.
Doch Mursi ist weder ein "Pharao" noch ein neuer Mubarak; er ist vielmehr der erste demokratisch legitimierte Präsident Ägyptens und zurzeit die einzige demokratische Institution des Landes.
Der Verfassungsentwurf, über den die Ägypter in zwei Wochen abstimmen sollen, ist im Eiltempo formuliert worden. Ein Blick darauf zeigt jedoch, dass der Text keine Grundlage dafür bietet, Ägypten in einen Gottesstaat nach iranischem Modell zu verwandeln - entgegen der zum Teil hysterischen Reaktion liberaler Eliten in Kairo und Alexandria.
Die "Prinzipien der Scharia" sind ungefährlich
Zwar bleiben die "Prinzipien der Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung" und im Artikel zwei verankert. Das ist jedoch weder neu noch gefährlich, denn dieser Artikel steht schon seit 1971 in der ägyptischen Verfassung. Und liberale, muslimische Reformdenker beziehen sich in der Regel auf die höheren "Prinzipien der Scharia", wenn sie moderne Demokratievorstellungen mit dem Islam versöhnen möchten.
Der Verfassungsentwurf definiert auch die Rolle der renommierten Al-Azhar Universität neu: Sie soll eine karitative unabhängige Einrichtung werden und ihr Oberhaupt, den Scheich Al-Azhar, den bisher der Präsidenten ernannt hat, soll ein unabhängiges Gremium bestimmen. Das macht aus diesem angesehenen Lehrzentrum des sunnitischen Islam nun wahrlich keinen ägyptischen Wächterrat, der die öffentliche Moral am Nil kontrolliert - das befürchten Kritiker. Vielmehr würde die Al-Azhar Universität Unabhängigkeit genießen und könnte dadurch ihre mäßigende alte Rolle eher zurückerlangen, frei von politischem Einfluss.
Außerdem garantiert der Verfassungsentwurf die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, neben Presse- und Meinungsfreiheit. Leider finden weder Frauenrechte noch der Schutz von Minderheiten explizite Erwähnung; vielmehr wird der besondere Charakter der ägyptischen Familie und ihre Bedeutung für die Nation betont. Ultrakonservative Kräfte könnten diese Formulierungen sicherlich zu Lasten der Frauen interpretieren.
Fehlende Konsenskultur
Wirklich positiv ist, dass der vorgelegte Text die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Wahlperioden beschränkt. Diese Verfassungsgarantie verbietet es, von einem neuen "Pharao" zu sprechen.
Bei der Auseinendersetzung inzwischen den islamistischen und zivil-liberalen Lagern geht es ohnehin um mehr als Mursis Dekrete und den Verfassungsentwurf. Es geht um die kulturelle Hegemonie im neuen Ägypten, darum, wer das Land prägen wird. Dieser Konflikt war absehbar in einem Staat mit liberalen Eliten und religiös-konservativer Bevölkerungsmehrheit. Diese Mehrheit würde Mursis Ziele und seinen Verfassungsentwurf wahrscheinlich auch dann noch unterstützen, wenn er den nationalen Dialog mit den liberalen Kräften ernsthaft suchen würde. Mursi muss mehr Versöhnung wagen.