Zeit für die Opfer
Der Mann, dessen Fingerabdrücke am Lenkrad des Lastwagens gefunden wurden, mit dem auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin zwölf Menschen getötet und Dutzende verletzt und damit unsere geschäftige, fröhliche Vorweihnachtszeit gesprengt hat, ist nun tot. Erschossen durch einen Polizisten in Mailand. Das haben der italienische Innenminister inzwischen wie auch der deutsche Generalbundesanwalt bestätigt.
Anis Amri galt als der Hauptverdächtige des Anschlages: Galt, daran müssen wir uns immer wieder erinnern. Denn die Ermittlungen laufen weiter. Noch gibt es also keine Gewissheit, obwohl viel in die Richtung deutet, dass Amri der Täter war.
Zu früh für Fragen
Deshalb ist es zu früh, jetzt zu fragen, warum ein Mann, der den Behörden als Gefährder bekannt war, sich mit anderen Islamisten vernetzen und, so scheint es, in den vergangenen Wochen vom Radar der deutschen Sicherheitskräfte rutschen konnte. Es ist auch zu früh, sich zu echauffieren, warum Tunesien, das sich doch eigentlich verpflichtet hat, seine hier kein Bleiberecht erhaltenden Staatsbürger zurückzunehmen, erst so spät die nötigen Ausweispapiere geschickt hat. Und es ist definitiv zu früh, die gesamte Flüchtlingspolitik überdenken zu wollen, als wäre sie nicht schon in den vergangenen Monaten immer restriktiver geworden.
Natürlich: All diese Fragen müssen irgendwann gestellt und offen und sachlich diskutiert werden. Es müssen vermutlich Konsequenzen gezogen und Abwägungen vorgenommen werden, wie mehr Sicherheit garantiert werden kann, ohne grundsätzliche Freiheiten einzuschränken und Ressentiments zu schüren. Das wird eine schwierige Balance im Jahr der Bundestagswahl, und die Versuchung bei Manchen- nicht nur in der AfD - wird groß sein, bestimmte Volksgruppen, Flüchtlinge und ja, Muslime per se, allesamt als potenzielle Verbrecher und Terroristen abzustempeln und Hass zu schüren.
Und auch wir, die Medien, müssen kritisch unsere Berichterstattung betrachten und uns fragen, warum so viele von uns, noch vor der offiziellen Bestätigung durch die Behörden, die Namen und Fotos erst des ersten und dann des zweiten Verdächtigen veröffentlicht haben? Weil wir die Öffentlichkeit mit fundierten Fakten informieren wollten? Oder weil wir die ersten sein wollten im Rausch der Klicks und Tweets?
Diskussion muss besonnen geführt werden
Wir alle werden uns einer besonnenen Diskussion stellen müssen. Einer Diskussion, die garantiert, dass unsere Angst nicht in etwas umschlägt, dass letztlich die Gesellschaft vergiftet und nur Vorurteile und Hass schürt. Denn genau das hätte der Angreifer vermutlich doch so gewollt.
Deswegen: nicht jetzt spekulieren! Erst, wenn die Ermittlungen abgeschlossen, die Faktenlage klar und die Ereignisse vollständig aufgeklärt sind - erst dann ist es Zeit, sich den Fragen zu stellen.
Lasst uns also die Zeit bis dahin nutzen, um den Opfern zu gedenken, damit sie nicht untergehen in der Flut der Spekulationen, Vorwürfen und Verdächtigungen. Das haben sie nicht verdient! Unsere Weihnachtsfeiertage - sie sollten also im wahrsten Sinne des Wortes "besinnlich" sein.
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