Naheliegender Sieger - "Fuocoammare"
Vor ziemlich genau fünf Jahren begann in Tunesien das, was die Welt heute unter dem Namen Arabellion kennt: der Aufstand vieler Menschen in der Region, zunächst in Nordafrika, später in den Ländern des Nahen Ostens, gegen veraltete Machtstrukturen, Unterdrückung und Staatswillkür. Seinen Ursprung nahm dieser "Arabische Frühling" in Tunesien. Danach rückten vor allem Ägypten und Libyen in den Fokus. In Syrien brach ein schrecklicher Bürgerkrieg aus, der bis heute andauert und die Welt in Atem hält. Europa und vor allem Deutschland sind durch den anhaltenden Flüchtlingsstrom direkt betroffen.
In Tunesien begann alles, die Flüchtlinge haben die Arabellion zu einem globalen Problem gemacht - so könnte man das Geschehen stark verkürzt auf einen Nenner bringen. Genau diese Entwicklung hat die Berlinale nun mit ihren Preisen abgebildet.
Erstmals seit 1951 gewinnt wieder ein Dokumentarfilm
Der Goldene Bär der 66. Ausgabe des Festivals ging an den italienischen Dokumentarfilm "Fuocoammare", der das Flüchtlingselend vor und auf der Mittelmeerinsel Lampedusa zeigt. Der Preis für das beste Debüt der Berlinale ging an "Inhebbek Hedi" des tunesischen Regisseurs Mohamed Ben Attia. Darüber hinaus bekam dessen Hauptdarsteller Majd Mastoura den Silbernen Bären als bester männlicher Schauspieler.
Zwei Entscheidungen, die zu begrüßen sind, weil sie einerseits auf filmästhetischen Kriterien beruhen, vor allem aber auch auf politischen. Wie hätte man an "Fuocoammare" vorbei gehen können? Als der italienische Film des Regisseurs Gianfranco Rosi (Bild oben) am ersten Festivalwochenende lief und die Zuschauer in den letzten zwanzig ungemein bedrückenden Minuten auf der Leinwand sahen, was die alltäglichen Nachrichtensendungen ausblenden, das Sterben der Flüchtlinge, da war den meisten klar: Hier lief ein heißer Kandidat für den Goldenen Bären.
"Fuocoammare" überschreitet Grenzen
Natürlich ist es immer ein wenig ungerecht gegenüber künstlerisch ambitionierten Spielfilmen, wenn eine Dokumentation mit all ihren Möglichkeiten sagt: Seht her, so sieht es auf der Welt aus, so ist die bittere Realität, ganz nah vor eurer Haustür sterben die Menschen! Jeder Spielfilm, zumal der, der sich eines privaten Problems eines gut situierten Westeuropäers annimmt, kann da nur schlecht abschneiden.
Doch "Fuocoammare" hat den Bären verdient. Weil er auch ein Film ist, der sich über das Medium Gedanken macht. Und weil er ein Film ist, der Grenzen überschreitet. "Inhebbek Hedi" aus Tunesien, der die Möglichkeiten des Spielfilms nutzt und der in Berlin mit zwei wichtigen Preisen bedacht wurde, steht dafür ja auch für die andere Art des Kinos.
Es ist ein ruhig und bedacht erzählter Film, der zeigt, wie ein einzelner Mensch aufbegehrt gegen Erwartungen. Der junge Hedi (Majd Mastoura) setzt sich gegen althergebrachte Familienstrukturen zur Wehr, gegen Konventionen der Gesellschaft, gegen das, was von vielen jungen arabischen Männern erwartet wird. Das macht "Inhebbek Hedi" ganz ausgezeichnet, gerade auch, weil er sich einen nicht extremen, religiös geprägten Fall vornimmt.
Berlinale vereint Kunst und Politik
Die Berlinale wird immer - im Gegensatz zu den anderen wichtigen Festivals in Cannes, Venedig und Toronto - als das politischste Festival bezeichnet. Das hat es der Berlinale in den vergangenen Jahren oft nicht leicht gemacht. Es standen Filme im Mittelpunkt, die unter der Last ihrer Botschaft zusammenbrachen. Filme, deren Thema wichtiger war als ihre ästhetische Kraft und die dann doch mit Preisen bedacht wurden.
In diesem Jahr sind zwei Filme ausgezeichnet worden, die es verdient haben. Und die zudem zwei Eckpunkte der jüngsten Weltgeschichte ins Kino bringen, die miteinander in Zusammenhang stehen. Die Berlinale hat somit Kunst und Politik, Ästhetik und moralische Botschaft auf geniale Art und Weise miteinander vereint.
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