Ob sie einem schmeckt oder nicht - das ist die Realität im Kosovo: Weite Teile der Bevölkerung sind frustriert, nationalistisch, radikal. Die Ergebnisse der Wahlen vom Sonntag zeigen klar, wo die Gesellschaft steht, wo der Schuh drückt und was dringend geschehen muss. Die Mehrheit von fast 60 Prozent der Wahlberechtigten ist überhaupt nicht an die Urnen gegangen - Frustrierte, die nicht mehr an die Veränderungskraft der Demokratie glauben, den politischen Eliten immer weniger trauen. Und die, die wählen, wählen immer stärker nationalistisch, radikal.
Das Mobilisierungspotenzial unter den gut organisierten Strukturen im Kosovo, die bei den Wahlen auch eindeutig auf der Siegerseite sind: Parteien und Bündnisse, die für wenig Kompromissbereitschaft stehen. Klarer denn je geben nach dieser Wahl die ehemaligen UCK-Kommandeure politisch den Ton an: 34 Prozent erhält das Wahlbündnis PAN der so genannten "Kriegsparteien" mit dem Spitzenkandidaten Ramush Haradinaj. Er wird nun mutmaßlich neuer Regierungschef. Mit einem Premierminister Haradinaj und dem Präsidenten Hashim Thaqi lägen dann beide Spitzenämter des jungen Staates in den Händen früherer Ex-UCK-Kommandanten.
Das Damoklesschwert des Kriegsverbrechertribunals
Doch diese Aussicht kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Spitzenpolitiker dieses Wahlbündnisses sich demnächst möglicherweise auf der Anklagebank des neuen Kosovo-Kriegsverbrechertribunals wiederfinden. Das Damoklesschwert dieses Tribunals hängt drohend über den UCK-Nachfolgestrukturen. Sollte es zu Anklagen gegen Spitzenpolitiker kommen, kann das am Sonntag sichtbar gewordene Mobilisierungspotenzial der Anhänger schnell für Solidaritätsbekundungen und Unruhen aufgerufen werden. Mit dem neuen Bündnis der alten Kriegshelden ist nicht zu spaßen - was bei den internationalen Ermittlern zu Recht mit Sorge beobachtet wird.
Nicht leichter wird unter einem Premier Haradinaj auch der ohnehin äußerst mühsame Dialog zwischen Belgrad und Prishtina, der vor allem die Lage der serbischen Minderheit verbessern soll. Belgrad fordert schon seit langem die Auslieferung von Haradinaj, der gerade einige Monate aufgrund des serbischen Haftbefehls im französischen Colmar festgehalten wurde. Einen direkten Dialog mit ihm lehnt Belgrad folgerichtig bisher kategorisch ab. Da wird wieder einmal viel internationales Vermittlergeschick nötig sein. Und die Brüsseler Diplomaten werden zugunsten des Dialogs erneut viele faule Kompromisse mit Belgrad und Prishtina schließen - Kompromisse, die weder der Demokratisierung Kosovos noch Serbiens zuträglich sind.
Wer wird Koalitionspartner der PAN?
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg: Der eindeutige Wahlsieger wird so schnell keine Koalition bilden können. Denn die beiden anderen albanischen Blöcke, von denen wenigstens einer für eine Koalition gewonnen werden muss, stellen sich quer. Die LDK, einst Partei der bürgerlichen Mitte der kosovarischen Gesellschaft, hat nur knapp 26 Prozent erzielt. Schon in den vergangenen Jahren war sie stets Partner in Koalitionsregierungen mit den UCK-Nachfolgeparteien. Doch eine Neuauflage des Bündnisses ist nicht einfach, da die vorzeitigen Neuwahlen wegen eines tiefen Zerwürfnisses zwischen den Koalitionären notwendig geworden waren, nicht zuletzt aufgrund des Streits um die Ratifizierung der Grenze zu Montenegro.
Eigentliche Sieger und Richtungsgeber ist der dritte Block in der politischen Landschaft des Kosovo: die Vetvendosja (VV) - Selbstbestimmung -, eine radikal oppositionelle Partei. Die einstige Protestbewegung hat ihren Stimmenanteil gegenüber 2014 verdoppelt. Sie ist die Partei der Jugend, der Auflehnung gegen das Establishment und sie lehnt eine Koalition mit dem Wahlsieger ab, weil sie dessen Spitzenpolitiker für tief korrupt und kriminell hält und sie hinter Gittern sehen will. Albin Kurti, Gründer und Spitzenkandidat der VV hat sich im Wahlkampf erstmals demonstrativ mit Krawatte gezeigt, um sein Image des Unruhestifters abzulegen zugunsten des Bildes eines politischen Hoffnungsträgers.
Eine ungewisse Zukunft
Doch trotz Krawatte steckt im Schafpelz immer noch ein Wolf. Kurtis radikal basisdemokratischen Forderungen schließen auch Volksabstimmungen über die Präsenz der internationalen Missionen und einen möglichen Zusammenschluss mit Albanien ein - Themen, die in der Region und international Besorgnis auslösen. Von Parlamentsboykott bis Tränengas im Plenarsaal reicht das Reservoir der VV.
Selbstbewusst und überschwänglich haben Vetevendosja und PAN ihre Wahlerfolge am Sonntagabend in den Straßen der kosovarischen Städte gefeiert. Diese beiden Blöcke werden das Schicksal Kosovos in der nächsten Zeit bestimmen. Alle anderen Parteien, auch die der ethnischen Minderheiten, die qua Verfassung an der Regierung beteiligt sind, werden nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Die Herausforderungen an die Politik im Kosovo sind gewaltig: Der Forderungskatalog aus Brüssel für die sehnlichst erwünschte Annäherung an die EU ist lang. Und selbst das Nahziel einer Liberalisierung der Visa-Vergabe - erst recht deren völlige Abschaffung - ist nur in einem stabilen politischen Umfeld zu verwirklichen. Die internationale Gemeinschaft, die im Kosovo bis heute mit mehreren militärischen und zivilen Missionen präsent ist, fordert vor allem Fortschritte im Zusammenleben mit der serbischen Minderheit, beim Dialog mit Belgrad, bei der Klärung der Grenze mit Montenegro sowie der Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Doch sie hat in den vergangenen Jahren viel Kredit verspielt und an Einfluss verloren, auch weil die EU-Perspektive und die offenen Statusfragen dahin dümpeln. Das wissen die Wahlsieger nur allzu gut und sie können mit dem Frust und den Ängsten der albanischen Mehrheits-Bevölkerung jederzeit zündeln. Die Wahlsieger Haradinaj und Kurti tragen eine zentrale Verantwortung dafür, dass Kosovo auf dem Weg einer friedlichen und demokratischen Entwicklung bleibt.
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