Kommentar: Neue Zweifel am Rechtsstaat
5. August 2013Was Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit betrifft, steht die Türkei im internationalen Vergleich nicht besonders gut da. Nach der Verkündung der Urteile im fragwürdigen Prozess gegen mutmaßliche Verschwörer, die einen Militärputsch gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan geplant haben sollen, sind neue Zweifel an der Türkei als Rechtsstaat angebracht. Die meisten der 275 mutmaßlichen Mitglieder der als Terrornetzwerk bezeichneten Untergrundorganisation "Ergenekon" wurden zu Haftstrafen verurteilt, einzelne zu bis zu 150 Jahren. Es gab lediglich 21 Freisprüche. Journalisten, gewählte Abgeordnete, Universitätsrektoren, Wissenschaftler und ranghohe frühere Militärs, die den "tiefen Staat" gegen die gewählte Regierung der religiös-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verkörpert haben sollen, sind somit als Gefahrenquelle beseitigt.
In der Türkei hat dieses Verfahren die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern Erdogans weiter vertieft. Die Spaltung der türkischen Gesellschaft wird auf absehbare Zeit nicht mehr beseitigt werden können. Im Verlauf des fünfjährigen Verfahrens mit 23 verschiedenen Anklageschriften war ein Überblick über die Aussagekraft von Beweisen und Zeugenaussagen nicht mehr möglich. Damit konnte auch nicht mehr zwischen wahren und unwahren Ermittlungsergebnissen unterschieden werden. Fest steht jetzt nur, dass Erdogan bei der Abrechnung mit der säkularen Grundordnung der türkischen Republik einen Pyrrhussieg erreicht hat. Er ist endgültig nicht mehr der Ministerpräsident des ganzen Volkes, sondern nur der seiner Wähler. Diese hatten ihm bei den Wahlen vor zwei Jahren noch einen demokratisch unanfechtbaren Sieg mit einem Stimmenanteil von fast 50 Prozent beschert.
Innerer Frieden ist bedroht
Die Verurteilten werden mit Sicherheit in Berufung gehen. Sie haben gute Chancen in der Revision, da allein schon am Tag der Urteilsverkündung durch das Gericht im Sondergefängnis Silivri bei Istanbul große Unruhe im Verhandlungssaal herrschte und viele Urteile akustisch nicht zu verstehen waren.
Es ist nun zu befürchten, dass die Unruhen der vergangenen zwei Monate und die exzessive Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Anti-Erdogan-Demonstranten in vielen türkischen Städten nach diesem Mammutprozess noch schwerer werden. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt bedroht den inneren Frieden in dem NATO-Staat massiv. Doch da die Türkei von vielen Krisenherden des Nahen Ostens umgeben ist und in direkter Nachbarschaft zum Bürgerkrieg in Syrien liegt, ist sie sehr wichtig für die westlichen Verbündeten. Diese wünschen sich eine ruhige, besonnen agierende und zuverlässige Führung in Ankara, die allerdings künftig mehr damit beschäftigt sein wird, den brüchigen inneren Frieden zu wahren, als sich um die Fortsetzung der zuletzt positiven wirtschaftlichen Entwicklungen zu kümmern. Es ist schade, dass eine politische Führung mit einer demokratisch legitimierten Rückendeckung der Bürger den Fehler macht, sich für unfehlbar und unersetzlich zu halten.