Gut 20 Jahre lang belauerten und bekriegten sich Armenier und Aserbaidschaner aus ihren Schützengräben heraus. Der Waffenstillstand in diesem "eingefrorenen" Konflikt war immer brüchig. Beide Seiten haben in den zurückliegenden Jahren gerüstet, was das Zeug hielt. Immer wieder wurde an der Demarkationslinie geschossen und gestorben. Im Herbst vergangenen Jahres gerieten sogar OSZE-Mitarbeiter unter Beschuss. Alle politischen Versuche Russlands, aber auch der Europäer und der USA, einen friedlichen Ausgleich zwischen Armeniern und Aserbaidschanern herbei zu führen, scheiterten bisher regelmäßig und waren nie von Dauer. So dürfte auch der am Dienstagmittag ausgehandelte Waffenstillstand wohl kaum lange halten.
Denn Baku und Eriwan wollen sich nicht wirklich helfen lassen in ihrem Streit um Stepankert, die Hauptstadt Berg-Karabachs, die in Aserbaidschan den Namen Chakendi trägt. Professionelle Beobachter wissen das seit langem - und doch waren sie alle überrascht, als am Wochenende die schweren Gefechte ausbrachen. Niemand kann bis heute sagen, wie es zum Gewaltausbruch kam. Wie üblich bezichtigen sich beide Seite gegenseitig, mit den Kämpfen begonnen zu haben.
Pflege gegenseitiger Feindbilder
Aserbaidschans Alleinherrscher Alijew verspricht seinem Volk immer schon, dass er die verlorene Region eines Tages zurück erobern werde. Aserbaidschan leidet zunehmend unter dem weltweiten Verfall der Rohölpreise. Die Armenier in Berg-Karabach wiederum, formal eigenständig, in Wirklichkeit aber abhängig von Zuwendungen aus Eriwan und von Finanzspritzen aus der armenischen Diaspora, haben ihr Gemeinwesen zu einer Art Militärstaat entwickelt.
Wer in der Region in den vergangenen Monaten unterwegs war, der traf auf archaische Erzählungen von der Grausamkeit des jeweilig anderen. Aserbaidschan kultiviert einen Heldenkult um seine 'Märtyrer', um die im Sezessionskrieg Anfang der 1990er-Jahre Gefallenen; und es erhält damit das Feindbild vom angeblich blutrünstigen Armenier am Leben. In Karabach wiederum wird den Aserbaidschanern abgesprochen, überhaupt eine eigene Nation zu sein; gegen die "Türken" aber scheint ihnen sowieso jedes Mittel recht - als ob die Karabacher Rache nehmen wollten für den türkischen Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges.
Es sind die ganz langen Schatten der Geschichte, die den Süd-Kaukasus in diesen Tagen verdunkeln. Ein ungelöster Territorialkonflikt aus der Erbmasse der Sowjetunion wird nun wieder virulent. Konfliktmuster werden sichtbar, die aus den letzten Jahren des Osmanischen Reiches stammen. Auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der alten Imperien stehen sich mit Russland und der Türkei zwei Nachfolgestaaten gegenüber, die beide getrieben sind von geostrategischer Ambition.
Gefahr eines Stellvertreter-Krieges
Putin und Erdogan haben mehr als einmal zu erkennen gegeben, dass sie unter politischen Phantomschmerzen leiden: Verlorene Gebiete, überkommen geglaubte Symbole der Imperien - ob der Zaren, der Sowjets oder der Osmanen - wirken hinein in die politische Gegenwart. Die Gefechte rund um die kleine Enklave Berg-Karabach könnten somit rasch zu einem ausgewachsenen Stellvertreter-Krieg werden, in den Russen und Türken allerlei historische Zerrbilder projizieren.
Das Eskalationspotenzial ist beachtlich: Russland garantiert für die Sicherheit Armeniens, hat tausende Soldaten dort stationiert. Offiziell erstreckt sich die Moskauer Sicherheitsgarantie nicht auf die Armenier von Berg-Karabach. Doch ob im Ernstfall jedes in Russland gebaute Kampfflugzeug anhand seines Hoheitsabzeichens identifizierbar wäre, ist fraglich. Die Türkei wiederum sieht sich traditionell als Schutzmacht Aserbaidschans, und der türkische Präsident Erdogan sagt das auch laut und deutlich. Ob das eine rein politische Rückendecklung ist oder ob darin auch eine Verpflichtung zum militärischen Beistand anklingt, weiß niemand. Die Antwort darauf könnte eine Frage von Krieg oder Frieden sein - nicht nur im Kaukasus.
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