Nicht in die IS-Falle tappen
Militärisch befindet sich der so genannte "Islamische Staat" seit Monaten auf dem Rückzug. Das Pseudokalifat hat seit Beginn der Luftangriffe der westlich-arabischen Allianz vor anderthalb Jahren fast 40 Prozent des von ihm kontrollierten Territoriums in seinen Kernländern Syrien und Irak verloren. Zudem wurden zahlreiche, hochrangige IS-Führer bei Operationen der Anti-IS-Koalition gezielt getötet. Und der Zustrom von ausländischen Kämpfern ging drastisch zurück, seitdem die Türkei die Grenze zu Syrien schärfer bewacht.
Aber nicht nur die fortgesetzten Luftschläge setzen den IS massiv unter Druck, auch die Erfolge der Kurdenmilizen und der neuformierten irakischen Streitkräfte trugen dazu entscheidend bei, der Expansion des Kalifats ein Ende zu setzen. Jedenfalls scheint das dschihadistische Projekt der Staatsbildung ins Wanken zu geraten, denn ohne militärische Expansion und die daraus resultierende Beuteökonomie ist der IS kaum überlebensfähig.
Ausweitung der Kampfzone
Es spricht Einiges dafür, dass der "Islamische Staat" 2016 in seinem Kerngebiet beseitigt werden kann. Die international koordinierten Vorbereitungen zur Rückeroberung Mossuls laufen bereits auf Hochtouren. Doch je mehr das selbst ernannte Kalifat in die Enge getrieben wird, desto brutaler und menschenverachtender werden seine Mittel und seine Ausweichstrategien.
Um den Traum vom weltumspannenden Kalifat aufrechtzuerhalten und von eigener Schwäche abzulenken, benötigt der IS dringend neue "Erfolgserlebnisse". Daher sucht er neue Aktionsfelder und versucht, sich in allen vom Zerfall bedrohten islamischen Staaten einzunisten, hauptsächlich in Nordafrika.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die IS-Strategie der Zuspitzung von Konflikten erklären: Durch gezielte Anschläge in muslimischen Staaten will er Zwietracht zwischen Sunniten und Schiiten säen und bürgerkriegsähnliche Zustände wie im Post-Saddam-Irak buchstäblich herbei bomben. Die beispiellose Anschlagsserie in Tunesien, Saudi-Arabien, Kuwait und der Türkei trägt die Handschrift des IS-Terrornetzwerks.
Populismus widerstehen
Auch in Europa geht es um mehr als PR-Aktionen der IS-Extremisten, mit dem Ziel Stärke zu demonstrieren und neue Anhänger zu gewinnen: Die Anschläge in Paris und auch Brüssel belegen vielmehr, dass das Pseudokalifat zunehmend auf eine perfide Strategie der extremen Polarisierung und der Spaltung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in der europäischen Einwanderungsgesellschaft setzt.
Durch das enthemmte Töten Unschuldiger sollen sowohl westliche Regierungen als auch Gesellschaften nämlich zu Überreaktionen gezwungen werden, die das friedliche Zusammenleben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen faktisch unmöglich machen. Alle Muslime in Europa unter Generalverdacht zu stellen bzw. die Einschränkung ihrer bürgerlichen Grundrechte würden dazu gehören.
So verständlich der Reflex einiger Entscheidungsträger und Meinungsmacher sein mag, die einige Stunden nach den hinterhältigen Anschlägen in Brüssel erklärten: "Wir sind im Krieg" - diese gefährliche Rhetorik spielt den IS-Extremisten eindeutig in die Hände. Denn sie setzt das Handeln souveräner Staaten mit der satanischen Praxis einer Terrormiliz gleich.
Von dieser extremen Zuspitzung erwarten die IS-Ideologen vor allem eine Bestätigung für das eigene Opfernarrativ: Dass der Westen tatsächlich einen Krieg gegen den Islam führt - und nicht gegen eine Mörderbande. In ihren Online-Publikationen machen sie keinen Hehl aus ihren strategischen Zielen: Muslime in Europa würden infolge ihrer Terroranschläge systematisch verfolgt werden, sodass ihnen keine andere Wahl bleibt, außer sich den IS-Nihilisten anzuschließen.
Ob das perfide Kalkül der IS-Terroristen aufgeht, hängt letztendlich von den Reaktionen der europäischen Demokratien ab.