Kommentar: Niersbachs Wahlprogramm
10. Juni 2015Wolfgang Niersbach hat in seiner Karriere schon oft bewiesen, dass er ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt hat. In seinem am Mittwoch veröffentlichten offenen Brief - an die im Deutschen Fußball Bund (DFB) organisierten rund 26.000 Vereine - präsentiert der DFB-Präsident nun seine Ideen zur Reformierung des Fußball-Weltverbandes. In zehn Punkten fordert Niersbach unter anderem einen schnellen Wechsel an der FIFA-Spitze, die Aufklärung der Korruptionsvorwürfe oder mehr Transparenz bei WM-Vergaben. Seine vorgelegte Agenda darf und muss als persönliches Wahlprogramm verstanden werden. Niersbach als Nachfolger für den zurückgetretenen Joseph Blatter? Nach der Wahl in das FIFA-Exekutivkomitee für Niersbach nur der nächste logische Karriereschritt.
Doch warum äußert sich der DFB-Präsident ausgerechnet jetzt? Möglichkeiten, Blatter und sein System zu kritisieren, gab es zuhauf. Doch der DFB schwieg. Kurz nach der umstrittenen Wiederwahl Blatters schlug Niersbach stattdessen ruhige, teils skurrile Töne an. "Da kann man noch so viel kritisieren und lamentieren - auch berechtigt kritisieren", räumte er damals ein, aber: "So funktioniert halt das System."
Niersbach wartet Zeitpunkt ab
Der DFB und sein Präsident verpassten es, klar Position zu beziehen. Anders die Engländer in Person von David Gill, der von seinem Posten im FIFA-Exekutivkomitee zurücktrat - aus Protest gegen Blatters Wiederwahl. Niersbach dagegen wartete auf den richtigen Zeitpunkt, und der scheint nun gekommen zu sein.
Denn jetzt, wo die Ermittlungen des FBI immer mehr Skandale offen legen, kommt Niersbach mit einem Reformplan um die Ecke. Zufall ist das nicht, denn Blatters Zeit ist abgelaufen, die FIFA deutlich geschwächt. Zudem werden alle zehn aufgeführten Punkte in Niersbachs Agenda in der Öffentlichkeit breite Zustimmung finden, weil sie der derzeitigen Stimmung entsprechen - Niersbach wittert seine Chance.
Sauberes Sommermärchen?
Doch Niersbachs Vorstoß bleibt nur dann glaubhaft, wenn auch das "Sommermärchen 2006" weiterhin unbefleckt bleibt. Bisher ist die WM-Vergabe nach Deutschland eine der wenigen Weltmeisterschaften, die noch nicht in den Fokus der Ermittler geraten ist. Ob das auch so bleibt, werden die kommenden Monate zeigen und damit auch über die Zukunft von Wolfgang Niersbach entscheiden.