Nostalgie ist ein schlechter Ratgeber
Bis zum Jahr 2010 war die Welt für Politiker, Arbeitgeber und Gewerkschaften in Deutschland noch in Ordnung. Die Deutschen waren stolz auf ihr Modell der Sozialpartnerschaft. Arbeitgeber und Gewerkschaften gingen pfleglich miteinander um. Es galt das - freilich nie in ein Gesetz gegossene - Prinzip: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Es bildete zusammen mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie die Grundfesten der deutschen Nachkriegswirtschaft und war ein unmittelbarer Reflex auf die Erfahrungen der Gewerkschaften in der Nazi-Diktatur: Damals war es den braunen Schergen leicht gefallen, das zersplitterte deutsche Gewerkschaftswesen zu zerschlagen.
Das sollte sich mit den neuen Prinzipien nicht wiederholen - und funktionierte 60 Jahre lang sehr gut. Ablesbar war das zum Beispiel an der Zahl der Streiktage, die in Deutschland im internationalen Vergleich immer sehr niedrig war. Doch im Jahr 2010 erklärten die höchsten deutschen Arbeitsrichter dieses bewährte Prinzip plötzlich für verfassungswidrig. Seitdem können unterschiedliche, miteinander konkurrierende Gewerkschaften für dieselbe Gruppe von Beschäftigten in einem Betrieb unterschiedliche Tarifverträge erzwingen. Das Ergebnis haben die Bundesbürger leidvoll zu spüren bekommen: Piloten legten den Flugverkehr lahm, Lokführer schafften es, Millionen von Reisenden und Pendlern das Leben schwer zu machen.
Zurück zu den Wurzeln?
Nun also will die Regierung per Gesetz zu den guten alten Zeiten der Tarifeinheit zurückkehren. Kommt es in einem Unternehmen zum Streit zwischen konkurrierenden Gewerkschaften, soll nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb gelten. Kollidierende Tarifverträge in einem Betrieb laufen nämlich dem Ziel der Lohngerechtigkeit zuwider.
Obwohl im Gesetz selbst das Wort "Streikrecht" nicht vorkommt, ist für die kleinen Spartengewerkschaften völlig klar, dass ihnen das verfassungsrechtlich garantierte Recht genommen werden soll, einen Arbeitskampf zu führen. Damit wird ihnen freilich auch ihre Existenzgrundlage genommen. Denn die Arbeitgeber werden es nicht mehr nötig haben, mit ihnen überhaupt irgendwelche Tarifverhandlungen zu führen.
Klar, dass die betroffenen Gewerkschaften vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ziehen werden. Und dort werden sie vermutlich auch Recht bekommen - das bescheinigen ihnen nicht nur fast sämtliche Arbeitsrechtler, sondern auch unabhängige Institutionen wie zum Beispiel der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages.
Verfassungsbruch
Verfassungsbruch mit Ansage also - der klägliche Versuch, per hastig zusammengezimmertem Gesetz zu den guten alten Zeiten zurückzukehren. Die allerdings sind ein für allemal vorbei, die Büchse der Pandora ist geöffnet und wird sich nicht mehr verschließen lassen. Oder anders ausgedrückt: Das Prinzip "ein Betrieb, eine Gewerkschaft" wird es so oder so nicht mehr geben, trotz aller guten Erfahrungen, die Gewerkschaften und Arbeitgeber damit in der Vergangenheit gemacht haben.
Nostalgie ist ein schlechter Ratgeber. Denn es kann sogar sein, dass die Bundesregierung mit ihrer sozialdemokratischen Arbeitsministerin das Gegenteil der Tarifeinheit erreichen wird. Denn wenn erst in jedem Betrieb ermittelt werden muss, welche Gewerkschaft die Mehrheit der Beschäftigten vertritt, wird die Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander deutlich zunehmen. Schreihälse wie der Chef der Lokführergewerkschaft, Claus Weselsky, der Millionen von Reisenden und Pendlern nervt, werden dann erst recht Hochkonjunktur haben.
Wie unausgegoren das Gesetz ist, zeigt auch die Tatsache, dass es die Gewerkschaften selbst zutiefst spaltet. Von den acht im Deutschen Gewerkschaftsbund vereinten großen Branchengewerkschaften sind drei dagegen: die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die Lehrergewerkschaft GEW und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG). Sie sind in manchen Betrieben so schwach, dass sie womöglich künftig dort keine Tarifpolitik mehr machen könnten. Gut möglich, dass dort die nächsten Schreihälse heranwachsen.
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