Kommentar: Sicherheit versus Menschenrechte?
23. Mai 2006Der am Dienstag (23.5.) vorgestellte Jahresbericht von Amnesty International verzeichnet auch diesmal wieder schwere Menschenrechtsverstöße in zahlreichen Teilen der Welt: Massen-Vertreibungen und Massen-Vergewaltigungen, Folter von Gefangenen, gezielter Gewalteinsatz gegen Zivilisten durch Terrorgruppen oder staatliche Organe; politisch motivierte Entführungen und Morde, die vielleicht niemals aufgeklärt werden, weil einflussreiche Machthaber ihre Finger im Spiel hatten.
Weltweit ähnliche Motive
Die Motive für schwere Menschenrechtsverstöße ähneln sich dabei weltweit: Es geht um die schonungslose Durchsetzung von politischen oder wirtschaftlichen Interessen. Es geht um Macht, Herrschaft und um den Zugriff auf Rohstoffe. Es geht darum, politische Kritiker mundtot zu machen und jeden Ansatz einer freien Presse oder Opposition im Keim zu ersticken. Und immer wieder geht es auch um das Ziel, mit aller Gewalt die Herrschaft über ohnehin benachteiligte Minderheiten oder über deren Siedlungsgebiete und Ressourcen zu sichern - meistens unter dem fadenscheinigen Vorwand, die Sicherheit, Stabilität und Integrität des betreffenden Staates schützen zu müssen.
Mit China und Russland rechtfertigen auch zwei ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats ihre andauernden Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und Xinjiang ganz ungeniert mit dem Argument, die Einheit von Staat und Nation gegen Angriffe angeblicher Separatisten oder fundamentalistischer Terroristen schützen zu müssen.
Nicht regional einzugrenzen
Schwere Menschenrechtsverletzungen gibt es besonders häufig auf dem afrikanischen Kontinent, wo ethnische Vertreibungen und selbst Massentötungen mancherorts immer noch traurige Realität sind, erschreckend oft außerdem in Asien, Lateinamerika und im Nahen Osten. Der Jahresbericht von Amnesty International zeigt allerdings, dass Menschenrechtsverstöße keineswegs nur in
Entwicklungs- und Schwellenländern vorkommen. Sie lassen sich auch nicht regional eingrenzen oder pauschal bestimmten Kulturkreisen zuordnen.
Inhumane Haftbedingungen in westlichen Ländern
Es spricht für die Glaubwürdigkeit auch des neuen
Amnesty-Berichts, dass hier nicht nur Menschenrechtsverletzungen in autoritär regierten Staaten wie Nordkorea, Simbabwe oder Saudi-Arabien angeprangert werden, sondern ebenso deutlich inhumane Haftbedingungen in demokratischen Ländern wie Italien oder Griechenland. Die israelischen Behörden werden genauso konsequent für Menschenrechtsverstöße verurteilt wie palästinensische Gruppen.
Und selbst ein weltweit gut angesehener Rechtsstaat wie Deutschland muss sich hier vorhalten lassen, Flüchtlinge in Länder mit unsicherer Menschenrechtslage auszuweisen. Außerdem ließen deutsche Richter vor Gericht Aussagen als Beweismittel zu, die - wenngleich in einem anderen Land - möglicherweise unter Folter erpresst wurden.
Kein plumper Anti-Amerikanismus
Mit zahlreichen Menschenrechtsverstößen auf Guantanamo Bay, im Irak, in Afghanistan und möglicherweise auch in geheimen CIA-Gefängnissen in Europa sind und bleiben jedoch die USA das westliche Land mit den gravierendsten Verstößen. Amnesty kritisiert in diesem Zusammenhang zu Recht die anhaltenden Versuche der amerikanischen Regierung, bestimmte Folterpraktiken im Namen der nationalen Sicherheit oder des Anti-Terror-Kampfes zu rechtfertigen. Die Menschenrechtler verfallen dabei aber nicht in plumpen Anti-Amerikanismus, sondern erwähnen mit verhaltenem Optimismus auch den zunehmenden Widerstand in der amerikanischen Gesellschaft gegen die Aushöhlung von Menschenrechtstandards - ein Widerstand, der in vielen anderen Ländern so gar nicht möglich wäre und der zumindest längerfristig auf einen Wandel hoffen lassen kann. Gerade demokratische Staaten sollten nie vergessen, auf welchen Fundamenten ihre Freiheit ruht: Die Verletzung von Menschenrechten kann niemals zu mehr Sicherheit führen. Sie führt dazu, dass rechtsstaatliche Standards abgebaut werden. Dadurch entsteht nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.