Nach durchverhandelter Nacht haben die abgekämpften EU-Staats- und Regierungschefs eine Vereinbarung zur Steuerung der Migration vorgelegt, der vor allem eines ist: Ein Rechtsschwenk auf dem Weg zur Festung Europa. Die Populisten haben sich durchgesetzt. Schotten dicht. Das Problem soll nach außen verlagert werden. Lager in Libyen und anderen nordafrikanischen Staaten sollen so abschreckend wirken, dass afrikanische Migranten erst gar nicht versuchen, über das Mittelmeer Europa zu erreichen.
Diese Strategie folgt dem Modell der Vereinbarung mit der Türkei. In der Ägäis hat die Aussicht, nicht mehr von den griechischen Inseln wegzukommen, dafür gesorgt, dass Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten nur noch in geringer Zahl Schleuser bezahlen, in seeuntüchtige Boote steigen und in die EU gelangen. Abschreckung ist also das Gebot der Stunde. Das ist nicht Neues. Neu ist, dass die Abschreckung jetzt mit euphemistisch betitelten "Anlandezentren" in Nordafrika durchgesetzt werden soll. Ausgerechnet auf Libyen, wo Migranten bislang ausgebeutet und gefoltert werden, will sich die EU als Partner stärker verlassen. Die libysche Küstenwache, die von der EU ausgerüstet wird, wird künftig in einem viel größeren Seegebiet für das Abfangen der Migranten zuständig sein. Das Ziel ist klar: Die aus selbst verschuldeter Seenot Geretteten sollen dahin zurückgeschoben werden, wo sie herkommen. Abschreckung eben.
Diese Strategie wird dann noch mit viel Geld und guten Worten von der Zusammenarbeit mit afrikanischen Herkunftsländern bemäntelt. Diese Zusammenarbeit, auf die auch die langsam verzweifelt wirkende Bundeskanzlerin hinweist, soll in den nächsten Jahrzehnten Ergebnisse bringen. Das ist für das aktuelle politische Problem natürlich viel zu langwierig. Bedauerlich ist, dass die neue rechtspopulistische Regierung in Italien sich mit ihrer rabiaten Zurückweisung von Schiffbrüchigen durchgesetzt hat. Die Erpressung hat gewirkt. Italien bekam zumindest auf dem Papier die geforderten geschlossenen Lager in der EU zugestanden, von denen aus die, die es noch nach Europa schaffen, zurückgeschoben oder auf freiwillige Länder verteilt werden sollen.
Wer jetzt noch flieht, ist selber schuld
Die Abschreckungsstrategie der EU mag hart klingen, noch ist sie, was die Fluchtroute von Libyen nach Italien angeht, ein Fantasieprodukt. Wie und von wem die Lager eingerichtet, betrieben und bewacht werden sollen, ist unklar. Lapidar steht in der Gipfelerklärung, sie sollten "keinen zusätzlichen Fluchtanreiz" bieten.
Die Hardliner innerhalb der EU, die dem populistischen Druck nachgeben, können triumphieren. Viktor Orban, der ungarische Ministerpräsident, kann jetzt mit Recht darauf hinweisen, dass sein Konzept - Zaun bauen, abschrecken, abschieben an der Grenze - sich am Ende durchgesetzt hat. Die Orbanisierung der EU-Migrationspolitik ist ein erschreckend simples Konzept. Von der legalen Migration oder von einer geordneten Einwanderung nach Europa ist in dem Gipfelbeschluss nicht mehr die Rede.
Und doch ist die Einigung von Brüssel nur ein vorläufige und vordergründige: Das Kernproblem der EU, nämlich die Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander, ist nicht gelöst, sondern nur vertagt worden. Die Verteilung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten, die es noch nach Europa schaffen, lehnt eine größer werdende Gruppe von Staaten komplett ab. Auch da schreitet die Orbanisierung voran. Neue Regeln darüber, wer für einen Asylbewerber zuständig ist, gibt es nicht. Dublin bleibt in Kraft.
Merkels Kopf ist weiter in der Schlinge
Und die Bundeskanzlerin? Angela Merkel hat für ihren Streit mit dem eigenen Innenminister kurzfristig wenig erreicht. Sollte Deutschland, wie Horst Seehofer will, an der deutschen Grenze Asylsuchende sofort zurückweisen, wird Österreich sie nach Italien weiterschieben und seine Grenzen dichtmachen. Bilaterale Abkommen, wie verfahren werden soll, konnte Merkel - soweit bekannt - nicht schließen. Sie ist voll auf den Abschottungskurs an den Außengrenzen der übrigen Gipfelteilnehmer eingeschwenkt, um wenigstens von einer "europäischen Lösung" reden zu können. Das erste Mal seit langer Zeit hatte sie die Gipfel-Regie der EU nicht mehr in der Hand. Ob das reicht, um mit der CSU einen Burgfrieden hinzubekommen, ist fraglich.
Dieser "Schicksals-Gipfel" der Kanzlerin hat in der Sache wenig praktische Lösungen gebracht. Die EU hat aber nochmals festgestellt, dass es das Problem der "Invasion", des "Drucks auf die Grenzen", über das die ganze Nacht gestritten wurde, eigentlich nur in den Köpfen der populistischen Regierungen und ihrer zunehmend fremdenfeindlichen Anhänger gibt. Die Zahl der in der EU ankommenden Menschen ist gegenüber 2015 bereits um 95 Prozent gefallen, steht im Gipfel-Papier. Jetzt geht es also noch darum, auch die letzten 5 Prozent aus der EU rauszuhalten.
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