Kommentar: Theorien und Beweise
12. März 2004Die spanische Regierung hält in Bezug auf die tödliche Anschlagsserie in Madrid an der Täterschaft der baskischen Untergrundorganisation ETA fest. Regierungssprecher Eduardo Zaplana bestritt in der Nacht zum Freitag "kategorisch", dass sich in einem der in Madrid explodierten Züge ein Selbstmordattentäter befunden habe. Die Polizei habe dafür keine Anhaltspunkte. Das später aufgetauchte angebliche Bekennerschreiben von Al Kaida sei ebenfalls nicht überzeugend.
Ohne handfeste Beweise ist es nicht nur müßig, sondern auch grob fahrlässig, Schuldzuweisungen für Terrorakte wie den von Madrid zu machen. Nur zu leicht könnten dabei die wahren Täter aus dem Blickfeld geraten und übermäßiges Interesse für andere wertvolle Zeit vergeuden. Andererseits ist es natürlich mehr als menschlich, sich darüber Gedanken zu machen, wer für solch eine monströse und unfassbare Bluttat als Täter in Frage kommt.
Beim Versuch ein Täter-Profil zu erstellen, muss alles zusammengetragen werden, was irgendwie auch nur am Rande von irgendeiner Relevanz sein könnte. So tun es gegenwärtig die spanischen Ermittlungsbehörden: Zwar ist die Tat untypisch für die ETA, weil sie sich blind gegen unschuldige Zivilisten richtete, auch weil die Basken-Organisation diesmal weder vorher warnte noch anschließend die Verantwortung übernahm. Ein wichtiger Punkt, denn mit ihren Anschlägen will die ETA normalerweise ja auch demonstrieren, dass es sie weiterhin gibt und dass sie nicht klein zu kriegen ist. Das funktioniert aber nur, wenn sie die Verantwortung für ihre Taten übernimmt.
Andere Indizien wiederum zeigen in Richtung ETA: Nicht übereifrige spanische Beamte, die in der ETA den Kern allen Übels sehen. Sondern Hinweise darauf, dass der verwendete Sprengstoff identisch ist mit dem, den die ETA bisher verwendete. Oder - mehr noch: Dass man in den letzten Monaten mindestens zwei geplante ETA-Anschläge auf Eisenbahnen vereitelt hatte.
So gesehen, schien die Indizienkette rasch geschlossen. Wenn da nicht ein Lieferwagen gefunden worden wäre mit Zündern und Koran-Kassetten. Und wenn da nicht in London ein Bekennerschreiben eingegangen wäre, in dem - schön im Ductus Osama bin Ladens gehalten - die Tat als Schlag gegen die "Kreuzfahrer" verherrlicht und weitere Anschläge angedroht werden. Dies ist auf famose Art geeignet, Thesen von einem zweiten Täter-Profil zu bedienen: Das islamistischer Terroristen vom Schlage - oder aus der Umgebung - der Al-Kaida.
Aber auch hier ist Vorsicht geboten: Nicht nur, weil es aus der Nähe der ETA sofort hieß, die Tat könne nur vom "arabischen Widerstand" verübt worden sein. Ein Versuch, die Fahnder auf die falsche Fährte zu locken? Dazu könnte auch der Lieferwagen mit den Koran-Aufnahmen gehören: Wer ausreichend organisatorisches "Talent" besitzt, ein Dutzend Bomben in mehreren Zügen zu verstecken und gleichzeitig zu zünden, der wird doch wohl auch falsche Spuren legen können.
Spuren, die natürlich nur in eine Richtung führen können heutzutage: Wo immer was immer geschieht: Seit dem 11. September wird immer erst einmal die Kaida Osama bin Ladens dahinter vermutet. Manchmal sicher zu Recht, oft bestimmt aber nur aus Bequemlichkeit. Gründe kann man natürlich genügend aufführen. Im Irak wie auch jetzt in Madrid: Hatte da nicht Osama bin Laden höchstpersönlich im Oktober auf einer Audio-Cassette den Spaniern - als engen Verbündeten der USA - gedroht? Waren nicht bereits Spanier im Irak Opfer gezielter Angriffe geworden?
Hier liegt aber ein wichtiger Unterschied zum bisherigen Verhalten der Kaida: Sie droht zwar gelegentlich im Voraus, lässt aber in der Regel hinterher im Dunkeln, wer die Taten ausgeführt hat. Ein Bekennerschreiben per e-mail macht deswegen eher misstrauisch, denn auch terroristischer "Erfolg" hat viele Väter. Das world wide web macht es terroristischen Trittbrettfahrern leichter als je zuvor, "Bekenner-Spams" abzusetzen. Was allein zählen wird und zählen darf, das sind Beweise, nicht Theorien - so plausibel sie auch klingen mögen.