Alles ist jetzt möglich im ärmsten reichen Land der Welt. Ein zweiter Mauerfall. Ein weiterer "arabischer Frühling" mit allen bekannten Konsequenzen. Ein Blutbad. Oder die Verhaftung des wagemutigen, jungen Parlamentspräsidenten Guaidó, ein Ende der Demonstrationen und ein Rückfall in die quälende Resignation der vergangenen Monate.
Juan Guaidó hat innerhalb weniger Wochen einen Stimmungsumschwung in Venezuela erzeugt, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Er gab dem von der chavistischen Staatsmacht kalt gestellten frei gewählten Parlament neues Gewicht, er schaffte es, die zersplitterte Opposition hinter sich zu vereinen. Und er ging in die traditionell chavistisch gesinnten Armenviertel und fand auch dort Unterstützung. Guaidó, der schon als Studentenführer den Dialog mit den Anhängern des politischen Gegners suchte, schien der richtige Mann für einen Wandel. Und er ist verfassungsgemäß zumindest übergangsweise der legitime Staatschef Venezuelas, weil der bis Anfang Januar durchaus rechtmäßig amtierende Präsident Maduro seine inzwischen begonnene zweite Amtszeit nur einer jedem demokratischen Prinzip widersprechenden Scheinwahl zu verdanken hat.
Ist die Unterstützung der USA hilfreich?
Dennoch ist der Schritt, den er mit seiner öffentlichen Selbstausrufung zum Präsidenten unternommen hat, mehr als riskant. Insbesondere die demonstrative Unterstützung aus den USA ist ein zweischneidiges Schwert. Die USA haben zweifelsohne gewaltiges Gewicht in Lateinamerika, aber die Geschichte ihrer Interventionspolitik wirft lange Schatten. Jede Hilfe aus den USA liefert den chavistischen Hardlinern um Maduro neue Argumente und nährt die Legende, dass Venezuelas Misere nur einem US-geführten "Wirtschaftskrieg" geschuldet sei. Dass Guaidó seine Aktion ganz offensichtlich mit der US-Regierung abgestimmt hat - nur Minuten danach twitterte US-Präsident Trump seine Anerkennung - macht die Situation nicht einfacher.
Zwar ist die Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten, Kanada und der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten beinahe ebenso schnell einer offiziellen Anerkennung Guiadós gefolgt, aber ein Schwergewicht fehlt: Mexiko. Der neue linkspopulistische Präsident López Obrador akzeptiert weiterhin nur Maduro als Staatsoberhaupt. Die Europäische Union agiert vorsichtig: Mit der Forderung nach freien Wahlen und einer klar ausgesprochenen Unterstützung des Parlaments ist noch keine offizielle Anerkennung Guaidós verbunden.
Aber entscheidend für das Überleben des chavistischen Regimes sind Russland und China. Für beide ist Venezuela ein strategisch wichtiger Brückenkopf, um ihre geopolitische Macht auch auf den amerikanischen Kontinent auszudehnen. Beide finanzieren den Staatsapparat in Caracas seit Jahren mit großzügigen Krediten, der Großteil der gigantischen venezolanischen Ölreserven ist bereits verpfändet. Russland führte erst vor kurzem Militärübungen in Venezuela durch und ließ dafür Kampfjets einfliegen.
Wie verhält sich der Sicherheitsapparat?
Sollte die US-Außenpolitik nicht nur das lautstarke Säbelrasseln beherrschen, sondern sich im Hintergrund diskret mit China verständigt haben oder es zumindest jetzt noch versuchen, bestünde Hoffnung für eine friedliche Lösung in Venezuela. Doch die Wahrscheinlichkeit dafür ist gering.
So wird in den nächsten Stunden und Tagen zunächst alles davon abhängen, wie sich die berüchtigten "colectivos", die chavistischen Schlägertrupps, und der Geheimdienst verhalten. Die Haltung des Militärs ist nicht eindeutig. Verteidigungsminister Padrino ließ sich öffentlich nicht blicken und twitterte lediglich, die Soldaten würden einen selbsternannten Präsidenten nicht unterstützen, sondern die Verfassung und die Souveränität Venezuelas verteidigen. Eine Unterstützung für Maduro war das nicht.
Alles ist jetzt möglich in Venezuela.