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Verbaler Unfall oder Provokation?

Susanne Spröer27. November 2014

Der deutsche Schriftsteller Günter Grass schlägt vor, Flüchtlinge bei Privatpersonen zwangsunterzubringen. Das habe nach dem Zweiten Weltkrieg auch geklappt. Ein Vergleich, der mehr als hinkt, meint Susanne Spröer.

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PEN Benefizgala Günter Grass 26.11.2014
Bild: picture-alliance/dpa/Daniel Bockwoldt/

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Dafür ist der Vorschlag des deutschen Nobelpreisträgers Günter Grass ein gutes Beispiel. Im wohlmeinenden Bemühen, Politiker in Deutschland und Europa aufzurütteln, endlich mehr für die Menschen zu tun, die aus den Kriegsgebieten Afrikas und des Nahen Ostens fliehen müssen, hat er sich verbal vergaloppiert. Denn die Situation damals war eine völlig andere als heute.

Heimat in der Fremde

Die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mittel- und Osteuropa in das in Trümmern liegende Deutschland kamen, hatten zwar auch ihre Heimat verloren. Aber sie sprachen dieselbe Sprache, kamen aus verwandten Kulturkreisen – und wurden trotzdem nicht mit offenen Armen empfangen. Katholiken, die man in protestantischen Orten unterbrachte, wurden lange argwöhnisch beäugt, und umgekehrt. Einheimische belegten Neubürger mit bösen Spitznamen wie "Polacken", neideten ihnen günstige Kredite, die die Wohnungslosen zum Beispiel zum Hausbau erhielten.

Griechenland Kreta Flüchtlinge 27.11.2014
Syrische Flüchtlinge auf KretaBild: picture-alliance/AP Photo/P. Giannakouris

Wo Fremde in Privathäusern und Wohnungen untergebracht wurden, war Streit programmiert. An den Rändern der Städte entstanden Siedlungen, in denen Flüchtlinge und Vertriebene lange unter sich blieben. Schmähnamen wie "Knoblauch-Siedlung" oder "Neu-Polen" zeugten davon. Fremde Gewohnheiten waren Einheimischen oft suspekt. Im Rückblick verlief die Integration zwar erfolgreich, die Flüchtlinge und Vertriebenen trugen zu Wohlstand und Wirtschaftswunder bei. Aber als Modellbeispiel für Integration kann das Vorgehen damals nicht dienen.

Zwang erzeugt Aggression

Denn heute ist die Lage völlig anders. Damals, nach Krieg und Nationalsozialismus, hatten die alliierten Besatzer gar keine andere Möglichkeit, als die vielen obdachlosen Menschen in den zerbombten Städten zwangsweise in Privatwohnungen unterzubringen. Doch heute, in einem demokratischen und freiheitlichen Deutschland, darf Zwang kein probates Mittel der Politik mehr sein.

Denn Zwangsmaßnahmen schaffen kein Verständnis, Mitgefühl oder Solidarität, sondern erzeugen Aggression und Gewalt. Und sie würden die Stimmung dort, wo heute schon gegen die Einrichtung von Asylbewerberheimen protestiert wird, erst recht anheizen.

Individuelle Lösungen finden

Lösungen dafür, wie wir in den wohlhabenden Ländern die humanitäre Verpflichtung umsetzen, weniger privilegierten Menschen zu helfen und sie zu unterstützen, können nur im Gespräch und im gesellschaftlichen Diskurs gefunden werden. Auf diese Weise entstehen auch neue Lösungsansätze. Wie der des Bürgermeisters Oliver Junk aus Goslar, einer Kleinstadt in Niedersachsen. Junk würde gerne rasch Flüchtlinge in seiner Stadt aufnehmen, weil es in Goslar genug leer stehende Wohnungen und Arbeitsplätze gibt.

Deutsche Welle Kultur Susanne Spröer
Susanne Spröer, Kultur OnlineBild: DW

Doch bisher werden Flüchtlinge nach Proporz und nicht nach Bedarf untergebracht, Großstädte müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen als kleine Orte. Und deshalb werden - statt intensiver nach passenderen Möglichkeiten zu suchen - Ghetto-Siedlungen am Rande von Großstädten eingerichtet, in denen Flüchtlinge und geduldete Asylbewerber über Jahre nicht arbeiten dürfen und so abhängig von staatlichen Sozialleistungen bleiben.

Provokation zum Gespräch?

Es ist Zeit für einen großen runden Tisch, an dem alle Beteiligten rasch nach schnellen, unbürokratischen Maßnahmen suchen: deutsche Politiker in Bund und Ländern, Politiker und Vertreter der Regionen, aus denen Menschen in Scharen flüchten, Flüchtlingsverbände, Bürger, die dort leben, wo Menschen Zuflucht finden sollen. Damit die von den Schriftstellern um Günter Grass auf dem PEN-Kongress in Hamburg völlig zu Recht kritisierte "Politik der Abschottung" gegen die Menschen in Not bald ein Ende haben möge.

Und vielleicht hatte Günter Grass‘ Vorschlag ja genau das zum Ziel: mit einer Provokation dieses so wichtige Thema wieder in die Schlagzeilen und damit ins Gespräch zu bringen. In diesem Fall wäre gut gemeint dann doch gut gemacht gewesen…