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Kommentar: Verlorenes Vertrauen in der Ukraine

Christiane Hoffmann22. November 2005

Eine verunsicherte Wirtschaft, mehr Freiheit für die Menschen, gesellschaftlicher Aufbruch - das hat die Revolution vor einem Jahr der Ukraine gebracht. Ein gemischtes Fazit zieht Christiane Hoffmann in ihrem Kommentar.

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Juschtschenko-Anhänger im Dezember 2004Bild: AP

Es ist nicht alles schlecht - das sollte vorangestellt werden. Denn die Ukrainer haben nach der "orangen Revolution" vor allem politische und bürgerliche Freiheiten gewonnen, die man meist erst dann vermisst, wenn man sie nicht mehr hat. Die Gesellschaft ist aktiv, es wird diskutiert und kritisiert. Und die Medien nutzen ihre neue Freiheit, wenn auch nicht immer in guter Qualität.

Doch schneller als gedacht erleidet die Ukraine das Schicksal anderer Transformationsländer. Die Menschen - enttäuscht, dass nichts vorangeht - wenden sich von den Regierenden ab und wieder den alten Kräften zu. Doch das ist nur zum Teil eine zwangsläufige Entwicklung, weil Verbesserungen von Lebensbedingungen länger dauern als es sich die Menschen erhoffen. Zum großen Teil ist die zu spürende Enttäuschung von der Regierung selbst verschuldet. Denn die sichert mit ihrer Politik keineswegs die Stabilität des Landes, geschweige denn, dass sie es mehr Richtung Europa und den Westen ausrichtet.

Mentalität des Abkassierens

Dass die Aufgabe nicht einfach werden würde, war klar. Denn jahrelange Vetternwirtschaft und das Regieren mittels gegenseitiger Abhängigkeiten haben eine Mentalität des Abkassierens geschaffen, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Und ein System, in dem man nur Freunden, Verwandten oder Geldgebern Vertrauen schenkt.

Doch was schockiert, ist die Leichtfertigkeit mit der Präsident Viktor Juschtschenko das Vertrauen der Menschen, die für eine andere Politik auf die Straße gegangen sind, aber auch von Investoren und dem Ausland verspielt. Und schockierend ist, dass die "Orangen", entgegen ihrer Versprechen vor einem Jahr, offenbar keine Strategie für einen Umbau des Staates besaßen. So haben sie an vielen Ecken begonnen, aber sich letztlich über den richtigen Weg zerstritten. Und so ist nur wenig passiert.

Mildernde Faktoren

Dass nicht sofort alles klappen kann, ist klar. Denn der Aufbau funktionierender Strukturen braucht Zeit. Vor allem, weil nicht genügend erfahrener politischer Nachwuchs vorhanden ist. Denn dieser wurde in den Jahren seit der Unabhängigkeit nicht kontinuierlich entwickelt. Und mildernd im Urteil wirkt sicherlich auch die Abhängigkeit des Präsidenten und seiner Regierung vom Parlament. Denn dort herrschen noch die alten Strukturen vor. So hat das Parlament in den vergangenen Monaten wichtige Weichenstellungen verhindert oder verwässert.

Doch zumindest hätte Juschtschenko in den vergangenen Monaten klar eine Richtung vorgeben müssen. Konkrete mittel- und langfristige Schritte aufzeigen müssen - ganz einfach ein Programm haben sollen. Eine klare Agenda hätte das Vertrauen gestärkt und seine Chancen wesentlich gesteigert, im kommenden März bei den Wahlen die Zusammensetzung des Parlaments zu seinen Gunsten zu ändern. Jetzt droht nach den Wahlen eine instabile Situation, ein Parlament ohne klare Mehrheiten. Das birgt das Risiko von Stillstand und Glaubwürdigkeitverlust - wie kürzlich geschehen, als Juschtschenko mit seinem Konkurrenten Viktor Janukowitsch eine Vereinbarung schließen musste, nur um seinen neuen Premier Juri Jechanurow wählen zu lassen. Ein Indiz, dass auch Juschtschenko zumindest zum Teil noch in alten Strukturen denkt.

Keine falsche Zurückhaltung des Westens

Da Anfang 2006 auch noch eine Verfassungsreform ansteht und Juschtschenko Macht an den Premier abgibt, wird erst nach den Wahlen feststehen, wer das Land wie regieren wird und was von der Ukraine zu erwarten ist. Umso mehr ist der Westen gefordert: Er sollte sich jetzt keineswegs zurückhalten - denn Veränderungen aktivieren immer auch die Beharrungskräfte. Konkret die Europäische Union sollte der Regierung mit professionellem Rat und sanftem Druck zur Seite stehen. Und auch ein stärkeres Engagement der neuen Bundesregierung würde das Team um Juschtschenko stärken.

Ein Jahr nach der "orangen Revolution" steht fest - das System zu ändern ist wesentlich schwerer, als nur die Köpfe auszutauschen. Dafür braucht man Regierende, die klar die Richtung vorgeben, Gesagtes auch durchsetzen und einen langen Atem haben. Die Ukraine hat dabei mindestens ein halbes Jahr und jede Menge Vertrauen verloren.